Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Geschlecht und andere Irrtümer

Vor kurzem wurde in zahlreichen Zeitungen über das neueste Buch („Böses Blut“) der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling berichtet. Kaum eine Rezension verzichtete darauf, von den Querelen, Boykottaufrufen usw. zu berichten, die mit diesem Buch, aber auch und insgesamt mit der Autorin zusammenhängen. Es geht dabei im wesentlichen um den Vorwurf, Rowling wäre transgender-feindlich, dies nicht zuletzt deshalb, weil sie darauf beharrt, dass es ein biologisches Geschlecht (hier: Frau) gebe und diese nicht auf die Bezeichnung „menstruierende Person“ zurückgeworfen werden dürften, während für die Gegenposition als „Frauen“ nur diejenigen Personen zu kategorisieren sind, die sich selbst als solche verstehen. Wenn man die unerquickliche Debatte um Bezeichnungen beiseite lässt, besteht der Kern der Auseinandersetzung also aus der Frage, ob Geschlecht in erster Linie eine objektive („Sex“) oder eine subjektive („Gender“) Tatsache ist.

Die Frage nach der subjektiven oder objektiven Zuordnung einer Person zu einer Kategorie ist so neu nicht, auch wenn im geschilderten Fall die Heftigkeit der Debatte den Eindruck erweckt, ein völlig neues Problem entdeckt zu haben. Ein Blick auf ähnlich gelagerte Themen zeigt jedoch, dass es immer noch und immer wieder um genau dasselbe Problem geht. Denn auch bei ethno-nationaler Zugehörigkeit oder der Hautfarbe dreht sich vieles um die Frage, ob es sich um objektive oder subjektive Sachverhalte handelt. Dies ist vor allem deshalb so bedeutsam, weil das Alltagswissen nicht sehr viel weiterhilft bzw. zumindest ungenau ist.

Sehen wir uns zunächst die objektiven Tatsachen an. Es scheint Konsens darüber zu bestehen, dass es weiße und schwarze Menschen gibt – aber nur so lange, wie man mit den grobschlächtigen Kategorien des US-amerikanischen Rassismus versehen auf die Welt blickt. In Brasilien etwa gibt es weit über hundert Abstufungen der Hautfarbe, die vom hellsten Weiß bis zum dunkelsten Schwarz reicht. Zugleich sind die Hautfarben mit dem sozialen Status verbunden, indem Personen mit höherem Status als heller angesehen werden als ärmere Menschen.

Exkurs:
Hier muss eine recht aussagekräftige Sprachvariation erwähnt werden: die Bezeichnung „preto“ (schwarz) wird insbesondere von antirassistischen Aktivisten abgelehnt, statt dessen bevorzugen sie die Bezeichnung „negro“ (dito).

Und sogar in den USA werden manchmal, wenn auch eher kulturell fundiert, Unterschiede bei derselben Hautfarbe gesehen; so äußerte sich in einer Folge der Serie „Monk“ der schwarze Rapper Murderuss (gespielt von Snoop Dogg) zu den Rap-Versuchen des Lt. Disher folgendermaßen: „Look, you got to be one of the whitest white boys I’ve ever met. And I’ve met Kevin Costner.“

Diese Uneindeutigkeiten, wie sie bei den Hautfarben existieren, liegen, zwar in geringerem Ausmaß, auch beim Geschlecht vor. Ohne hier in die Feinheiten der Biologie einsteigen zu wollen, gibt es mehrere Aspekte, die eine fraglos-naturgegebene Unterscheidung in zwei Geschlechter zweifelhaft machen. So wird etwa im Leistungssport eine solche Unterscheidung dann getroffen, wenn es deutliche, meist hormonell bedingte Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Leistungsfähigkeit gibt. Dadurch wird es in der Leichtathletik Frauen ermöglicht, Rennen zu laufen oder Wurfwettbewerbe zu absolvieren, ohne in die aussichtslose Konkurrenz mit Männern treten zu müssen. Diese Trennung in zwei Geschlechter ist aber seit 2008 fraglich geworden, da die Südafrikanerin Caster Semenya offenbar als intersexuelle Person Testosteronwerte aufweist, die sie gegenüber anderen, nach äußeren Merkmalen ebenfalls als Frauen zu identifizierenden Personen stark bevorteilt. Der Internationale Sportgerichtshof bezeichnete es 2019 deshalb als verhältnismäßig, dass ihr von internationalen Sportorganisationen aufgegeben wurde, den Testosteronspiegel medikamentös zu senken, wenn sie an Wettkämpfen teilnehmen wolle. Gleichzeit bestätigte das Gericht, dass es sich dabei um eine Form von Diskriminierung handle, die aber zugunsten anderer Frauen als gerechtfertigt angesehen werden könne.

Ein ganz anderer Fall, bei dem Biologie und Hormone völlig unwichtig sind, sondern es ausschließlich um soziale Rollen geht, ist das verbreitete Phänomen des sog. dritten Geschlechts. Vor allem in traditionellen Gesellschaften übernehmen etwa biologische Frauen Männerrollen und verwandeln so ihr biologisches Geschlecht in ein anderes, soziales Geschlecht. Ein Beispiel sind die Burrnesha in Albanien, denen es durch ein Gesetz aus dem Mittelalter in der patriarchalischen Gesellschaft erlaubt wurde und wird, Männer zu werden. Dies ist nicht mit einer Operation o. ä. verbunden, sondern äußert sich in der Verpflichtung zu lebenslanger Jungfräulichkeit, dem Verrichten von Männerarbeit und dem Tragen von Männerkleidung. Ähnliche Formen des dritten Geschlechts gibt es auch in anderen Balkanländern. Umgekehrt ist die Situation in manchen Gegenden Südostasiens oder (früher) bei den nordamerikanischen Indianern, wo biologische Männer sozial zu Frauen werden.

Diese Beispiele zeigen, dass beim Geschlecht wie bei den Hautfarben ein breites Spektrum an objektiven Merkmalsdifferenzen existieren, welche die übliche Differenzierung etwa in schwarz und weiß oder Mann und Frau in Frage stellen. Es muss hier nicht weiter vertieft werden, dass ähnliche Gegebenheiten auch bei der Zuordnung von Menschen in ethno-nationale Kategorien vorliegen. Gerade hier zeigt sich jedoch historisch das Grundproblem dieses Typs von Kategorisierung. Denn die objektive, d. h. von außen vorgenommene Einteilung von Menschen ist sehr gut instrumentalisierbar für politische Zwecke, ohne dass die Betroffenen mitentscheiden können. Das wohl bekannteste und im Ergebnis schlimmste Beispiel hierfür ist die Kategorisierung von Menschen als „Juden“ oder „Zigeuner“ im Dritten Reich. Auf verschiedenen Wegen wie der Nutzung von Abstammungsurkunden, der Betrachtung des sozialen Status oder der Vermessung von Schädelformen wurden dort Menschen in die beiden Kategorien eingeteilt und dementsprechend behandelt, d. h. letztlich in die Vernichtungslager transportiert. Die Betroffenen wurden nicht gefragt, ob sie denn „Juden“ oder „Zigeuner“ seien, sondern ihre Zugehörigkeit staatlicherseits festgelegt. Objektive Kategorien sind also als solche etwas, das den Betroffenen übergestülpt wird und problematische Konsequenzen haben kann.

Vor diesem Hintergrund scheint ihre Ersetzung durch subjektive Kategorisierung ein Fortschritt zu sein. Bezogen auf ethno-nationale Zugehörigkeiten sind wohl die sog. Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 beispielgebend. Mit ihnen wurde versucht, die Auseinandersetzungen um die Grenzziehung zwischen Deutschland und Dänemark ab 1920 und die Behandlung der jeweiligen Minderheiten in der Grenzregion zu befrieden. Der Kernsatz der Erklärungen lautet: „Das Bekenntnis zum deutschen/dänischen Volkstum und zur deutschen/dänischen Kultur ist frei und darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden“. Die beiden Staaten bekunden damit, auf objektive Kategorisierungen verzichten zu wollen und es den einzelnen Menschen zu überlassen, ob sie sich als Dänen oder Deutsche verstehen. Nach diesem Muster ist auch die subjektive Definition des Geschlechts („Gender“) konzipiert; und sie kann auf die Hautfarbe ebenfalls übertragen werden.

Diese Lösung der Zuordnung zu einer Menschenkategorie hat jedoch notwendigerweise ein fundamentales Problem. Abstrakt gesprochen geht es um den Opportunismusverdacht, der zu einer Umwandlung der subjektiven in eine objektive Kategorienbildung führt. Ein paar Beispiele sollen dies illustrieren helfen. Hierzu gehört schon das obige Zitat. Denn wörtlich genommen, ist die Festlegung zumindest in einer Demokratie ziemlich unsinnig; denn was soll „von Amts wegen“ dagegen sprechen, wenn sich jemand zu irgendeinem Volkstum, und sei es zu dem der Klingonen, bekennt. Ein solches Bekenntnis ist sozial weitestgehend folgenlos. Tatsächlich aber sind mit diesen scheinbar folgenlosen Bekenntnissen ganz eindeutige und folgenreiche Konsequenzen verbunden. So ist etwa die Partei „Südschleswigscher Wählerverband“ (SSW) in Schleswig-Holstein von der 5 %-Klausel befreit, weil sie – wie höchstrichterlich festgestellt wurde – die regionalen autochthonen Dänen vertritt und diese Vertretung im Sinne der Bonn-Kopenhagener Erklärungen ist. Dänische Organisationen im Grenzgebiet legen ebenfalls großen Wert darauf, als authentische Vertreter der Dänen angesehen zu werden, und kontrollieren argwöhnisch, dass nicht irgendwelche „Pseudo-Dänen“ sich als Vertreter der regionalen Dänen etablieren und staatlich anerkannt werden. Damit legt also doch der Staat („von Amts wegen“) fest, dass es „Dänen“ in Schleswig-Holstein gibt – und zwar völlig unabhängig von, ja sogar im prinzipiellen Gegensatz zu irgendwelchen Bekenntnissen. Zugleich werden andere subjektive Zugehörigkeiten, etwa von „Italienern“, „Türken“ oder „Arabern“, nicht mit einer Sonderstellung geadelt.

Der Selbst-Zuordnung zu einer Hautfarbe ist ebenso keine Dauerhaftigkeit beschieden, wie der Fall Rachel Dolezal zeigt. Die 1977 geborene Frau bezeichnete sich als Schwarze, wurde deshalb lokale Repräsentantin der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP, Vorsitzende der Ombudsman-Kommission der lokalen Polizei und Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien. 2015 deckte eine Regionalzeitung auf, dass sie überhaupt keine Schwarze sei, was auch ihre Eltern bestätigten. Die öffentliche Empörung war daraufhin groß und sie verlor alle erwähnten Funktionen. Es zeigt sich hier wieder, dass das bloße Bekenntnis der Zugehörigkeit nicht funktioniert, weil andere besser wissen, wer man „eigentlich“ ist. Es wurden Mutmaßungen über psychische Störungen laut, aber auch Versuche, das Grundproblem über die Konstruktion einer transrace-Identität zu lösen. Letztere stellt sich zwischen die subjektive Zugehörigkeit, die aus dem Bekenntnis besteht, und die objektive Zugehörigkeit durch die Kategorisierung seitens der Gesellschaft. Die transrace-Identität ist dann einerseits subjektiv, weil sie von der betreffenden Person selbst ausgebildet wird, aber andererseits auch objektiv, weil sie nicht unter dem Verdacht des situativ Beliebigen steht. Leider ist eine solche Identität (wie andere auch) nicht überprüfbar, d. h. der Opportunismusverdacht nicht ausschaltbar, da ja Identitäten nicht beobachtet werden können, sondern nur Verhaltensweisen (incl. Bekenntnisse).

In geradezu aberwitziger Weise zeigt sich dieses Problem auch in dem 1946 erschienen Roman „J’irai cracher sur vos tombes (dt.: Ich werde auf eure Gräber spucken) des französischen Schriftstellers Boris Vian. Darin rächt sich der Ich-Erzähler, ein sich selbst als Schwarzer verstehender US-Amerikaner, der zwar zu einem Achtel schwarze Vorfahren hat, von anderen aber nicht als solcher identifiziert wird, für die Ermordung seines Bruders durch weiße Rassisten auf sehr brutale Art und Weise: Er verführt zwei weiße rassistische Frauen, outet sich jeweils nach dem Sex als Schwarzer und tötet sie dann. Die Rache ist für ihn nur deshalb vollständig, weil er die Frauen nicht bloß getäuscht und dann getötet hat, sondern sie auch noch zusätzlich demütigt, indem er sich als Schwarzer bezeichnet. Er betreibt also ein verbales Blackfacing, das aber nicht nur eine Äußerung zum Zweck der Demütigung ist, sondern Ausdruck seines Selbstbildes und damit aus der Sicht der subjektiven Zugehörigkeit legitim (im Gegensatz zu bloßen Opportunisten). Letzteres ist für die Frauen jedoch nicht erfahrbar, sondern nur das Bekenntnis selbst. Dieses Erkenntnis-Problem löst sich für die Frauen mit ihrer Ermordung endgültig. Auch hier äußert sich wieder das Opportunismus-Problem – ein Bekenntnis als Element der Bestrafung.

Bezogen auf das Geschlecht wird Opportunismus meist am Beispiel der öffentlichen Toiletten diskutiert, nämlich dass sich eine Person als zu einem anderen Geschlecht gehörig bezeichnen könnte, um die lange Schlange vor der „eigenen“ Toilette umgehen zu können. Es ist ganz offensichtlich, dass hier ein doch recht nebensächliches Thema angesprochen wird. Wirklich interessant ist demgegenüber die Frage, wie die subjektive Geschlechtswahl mit dem Proporz in Leitungsfunktionen zu vereinbaren ist, d. h. wenn mehr Frauen in Vorstände von Unternehmen gelangen sollen. Auch im Sport stellt sich das Problem, das bisher nur in Ausnahmefällen wie bei Caster Semenya auftritt, in ganz neuem Umfang. Es muss dann grundsätzlich zu einer objektiven Kategorisierung kommen. Im Sport könnte das relativ einfach passieren, da der Zweck der Geschlechtszuschreibung eindeutig ist. Dann könnte etwa festgelegt werden, dass nicht mehr der Blick auf äußere Geschlechtsmerkmale die Regel bei der Zuordnung zu einer Wettkampfgruppe ist, sondern ähnlich wie bei den Paralympics, wo unterschiedliche Stufen von Handicaps definiert sind, die Werte von Hormonen o. ä. entscheidend sind. Die Konsequenz ist dann die genaue biologische Begutachtung der Wettkämpfer – was wiederum an historisch belastete Praktiken erinnert.

Aber wie kann in anderen gesellschaftlichen Sphären, die wenig mit körperlichen Potentialen zu tun haben, die subjektive Wahl des Geschlechts sichtbar und für die Zuordnung zu sozialen Rollen verstetigt werden? Wenn nicht mehr das biologische Geschlecht eine „Frau“ bestimmt, sondern die selbst getroffene Wahl („Gender“), dann muss dies für andere sichtbar gemacht werden, um sozial relevant zu sein. Im Mittelalter gab es für verschiedene Berufsgruppen eindeutig festgelegte Kleidungsvorschriften. Dies ist heute sicherlich keine gute Wahl mehr. Vielleicht könnte ja ein kleiner Anstecker, gerne in Sternform, hier weiterhelfen. Und vielleicht hat J.K. Rowling zumindest aus politischer Sicht nicht ganz unrecht.

Sie steht in einer Tradition, die von der Aufklärung über die französische Revolution und die Arbeiterbewegung bis – selbstverständlich – zum Feminismus reicht. Bezogen auf das Geschlecht könnte die entsprechende Position schlagwortartig so gefasst werden: Mein sozialer Status ist „Frau“, er soll aber „Mensch“ werden (z. B. durch das Wahlrecht, gleiche Bildungschancen, gleiche Löhne, selbstbestimmte Kleidungswahl usw.). Die objektive Realität von Geschlecht verliert dadurch an Bedeutung, sie löst sich letztlich auf bzw. beschränkt sich auf sexuelle Beziehungen.

Ganz anders sieht es bei der Gegenposition aus. Soll Geschlecht als subjektive Tatsache sozial wirksam werden, muss sie zur objektiven Tatsache werden, durch äußere Merkmale und/oder performativ. Aus einem „Menschen“ wird dann ein primär über das Geschlecht definiertes Wesen, aus universellen werden partikularistische Werte, mit einer inhärenten Tendenz in Richtung Ständestaat. Und das würde wohl nicht nur J.K. Rowling wenig gefallen.

 

 

1 Kommentar

  1. Anne

    Das ist wirklich eine für mich interessante Darstellung der Problematik. Wenn auch mit der empfohlenen „Sternform“ sehr zugespitzt 😉

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