Bei gesellschaftlichen Konflikten sind die Streitparteien zumeist kaum zu übersehen. Die Ressourcen, um die es geht, werden jeweils eindeutig benannt, und es fällt auch nicht besonders schwer, sich auf die eine oder die andere Seite zu stellen. Gerade diese einfache Positionierung sollte es jedoch nahelegen, sich die Akteure etwas genauer anzuschauen.
Als Beispiel sollen hier die Auseinandersetzungen im Tourismus dienen, was an Hand eines ganzseitigen Artikels in der Süddeutschen Zeitung über eine spezielle Form des Overtourism, nämlich die Auswirkungen des Wander- oder Pilgertourismus auf den Zielort des Jakobswegs, Santiago de Compostela (Illinger, Patrick: Wir sind dann mal zu viele. In: Süddeutsche Zeitung v. 4./5.10.2025, S. 49), dargestellt werden kann. So ist etwa folgendes zu lesen: „Dabei ist es nicht nur die reine Masse, unter der die Menschen von Santiago leiden. Es gibt da auch ein großes Missverständnis zwischen Besuchern und Bewohnern. Die einen wollen ihren Camino gehen, ihr persönliches Erlebnis auskosten und am Ende ihren Erfolg feiern. Die anderen wollen ihre Stadt bewahren und nicht zur Kulisse eines Themenparks werden.“
Ganz offensichtlich stehen sich also zwei Parteien gegenüber, nämlich die Touristen und die Stadtbewohner, die um die Nutzung desselben Raums, nämlich einer Stadt, konkurrieren. Liest man den Artikel aber etwas genauer, ist es mit einer einfachen Erklärung des Konflikts schon wieder vorbei.
Denn aus heiterem Himmel ist nichts passiert. Noch im Jahre 1978 war der im Mittelalter als Pilgerroute frequentierte Jakobsweg so viel wie inexistent; ganze 13 Pilger wurden in diesem Jahr registriert.
Das änderte sich in den 1980er Jahren, als zum Zwecke der Regionalförderung die Infrastruktur des Jakobswegs (Beschilderung, Unterkünfte usw.) verbessert und umfangreiche Marketingmaßnahmen ergriffen wurden. Auch das 2006 erschiene Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling kann als (nicht unbedingt beabsichtigtes) Marketing für den Jakobsweg interpretiert werden.
All diese Aktivitäten hätten zwar das Interesse am Jakobsweg wecken können und auch zu einer erst- oder einmaligen Durchführung der Tour geführt; das heute als problematisch, teilweise auch als konfliktreich wahrgenommene Ausmaß des Tourismus ist aber in erster Linie auf die umfangreiche Ausweitung des touristischen Angebots vor Ort zurückzuführen. Gaststätten, Drogerien und Apotheken, Souvenirläden und von allem Unterkünfte sind entstanden, letztere auch und vor allem durch Umwidmung von Wohnungen in Ferienunterkünfte oder Hotels. Nicht zuletzt unterstützt auch die Kirche den exzessiven Tourismus, hat sie doch hierdurch einen enormen Bedeutungsgewinn erfahren.
Es gibt also nicht zwei Konfliktparteien, die sich vor Ort gegenüberstehen, wenn etwa eine Tourismuskritikerin Aufkleber verteilt, auf denen zu lesen steht: „Dein Airbnb war mein Zuhause.“ Sondern es sind drei Gruppen: neben den örtlichen Betroffenen und den Pilgern/Wanderern stehen diejenigen scheinbar nur am Rande des Konflikts, die in erster Linie von den Veränderungen profitieren und/oder sie vorantreiben. Man könnte sie „Agenten“ nennen, da sie all das initiieren bzw. fördern, was zum beobachteten Wandel führt: die Anbieter von Waren und Dienstleistungen für die Touristen, die Vermieter von Zimmern und Wohnungen, die öffentlichen Verwaltungen, die die Entwicklungen wohlwollend begleiten oder gar unterstützen (und so Einnahmen für sich selbst generieren), das Pilgerbüro der Kathedrale, das die begehrten Urkunden ausstellt, usw. usf.
Insofern ist der Konflikt zwischen den überlasteten oder gar vertriebenen Einheimischen und den Selbstfindung vorspiegelnden Touristen ein typisches Ablenkungsszenario, mit dem die Durchsetzung der Interessen von Profitmaximierern, Kirche und öffentlicher Hand bemäntelt und auf die Ebene von Verhaltensdefiziten der Wanderer bzw. Überempfindlichkeiten lokaler Traditionalisten verschoben wird. Was wiederum bedeutet, dass der Konflikt unlösbar wird.
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