Heulen Eulen?

Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Seite 5 von 31

Kapitalismus

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, eine Examensarbeit über – grob zusammengefasst – die gesundheitliche Situation von Wanderarbeitern zu lesen. Darin wurde ausführlich eine Diskussion südamerikanischer Autoren referiert, die es für erforderlich halten, gesundheitliche Probleme als Resultat des Kapitalismus bzw. kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu verstehen.

Die Setzung eines solchen Zusammenhangs scheint nun gleichzeitig unterbestimmt und überbestimmt zu sein – unterbestimmt, weil etwa Lungenkrebs auf Rauchen zurückgeführt und Kinderlähmung durch eine Impfung verhindert werden kann und somit Gesundheit in anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen auf genau dieselben Zusammenhänge zu reagieren hat; und überbestimmt, weil aus dem Abstraktum „Kapitalismus“ derart viele Aspekte abgeleitet werden können, dass der Erklärungswert schnell gegen Null geht.

Beides teilt dieser Zugang mit vielen anderen Elementen sog. Kapitalismuskritik, ob nun das Ausbrechen von Kriegen erklärt werden soll, das Elend in der Welt, die Klimakrise oder gleich gar das zukünftige Ende der Welt. Besonders auffällig wurde dieses Muster im Zusammenhang mit dem jüngsten Überfall auf Israel, als bisher meist negativ beurteilte Hobbys – Massenvergewaltigung und das Köpfen kleiner Kinder – aus dieser marginalen Nische herausgehoben wurden und das Attribut des antikolonialistischen und antikapitalistischen Kampfes erhielten. Man kann Freunden dieser Hobbys nur empfehlen, ihre Ausübung in Zukunft grundsolide als antikapitalistischen Widerstand zu apostrophieren, um Beifall einer bestimmten Sorte von Linken zu erhalten.

Tatsächlich kann kaum etwas das Elend „linker“ Weltbeschreibung besser illustrieren als das Verständnis von Kapitalismus bzw. antikapitalistischem Kampf, steht doch im Zentrum dieser Form von Welterklärung die permanente Suche nach dem revolutionären Subjekt. So war schon in den späten 1960er Jahren festzustellen, dass das aus vulgär-marxistischer Sicht zentrale revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, wenig Bereitschaft zeigte, diese Rolle zu übernehmen, und stattdessen lieber samstags den neu erworbenen Opel wusch. Daher landete die Suche sehr schnell bei denjenigen, die ebenso als Betroffene des Kapitalismus identifiziert werden konnten: den kolonialisierten Bevölkerungen der (so die damalige Bezeichnung) Dritten Welt. Es blieb aber zunächst kommunistischen Sekten der „Ersten Welt“ vorbehalten, ihre Zentralorgane nun mit „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch!“ [Hervorh. d. Autor] zu untertiteln. Mittlerweile ist die Vorstellung, es gäbe tatsächlich unterdrückte Völker, aus den entsprechenden Diskursen nicht mehr wegzudenken.

Der Fokus auf das Unterdrückt-Sein, auf die Rolle als Opfer und weg von der Frage, was wollen die Aktivisten dieser „Völker“ und mit welchen Mitteln, erzeugte die bis heute große Anschlussfähigkeit diktatorischer, ja massenmörderischer Bestrebungen an die wohlstandsverwahrloste „Linke“ in den Metropolen der Welt. Das Opfer-Sein wurde zum Trigger für diese Linke, was aufmerksam registriert und in entsprechendes Handeln umgesetzt wurde: Erfolg hat dort heute nur noch, wer sich besonders gut als Opfer inszenieren kann.

In dieser Gemengelage ist „Kapitalismus“ wie sein Schwesterbegriff „Kolonialismus“ selbstverständlich kein irgendwie gearteter Analyse- oder gar Theoriebegriff (mehr), sondern ein bloßes Schimpfwort. Auch aus diesem Grund soll im folgenden ein kurzer Korrekturversuch unternommen werden, indem auf einen der Begriffsursprünge zurückgegriffen wird.

Der Begriff „Kapitalismus“ existierte bereits im 18. Jh.; in negativ-kritischer Bedeutung wurde er aber wohl erstmals von Marx und Engels verwendet (zunächst als „kapitalistische Produktionsweise“). Die kritische Verwendung des Begriffs hat jedoch nichts zu tun mit seiner heutigen, eher intelligenzbefreiten Anwendung auf alles, was irgendwie mit Anhäufung von Reichtum und Diskriminierung von „Opfern“ assoziiert werden kann.

So hatten Marx und Engels etwa für die „unterdrückten Völker“ nur Verachtung und Häme übrig. Und auch das Elend der – als Beispiel herangezogenen – englischen Arbeiter wurde zwar ausführlich beschrieben und analysiert (vgl. z. B. F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 1845); das Erkenntnisinteresse war jedoch ein ganz anderes, wie es insbesondere Marx’ dreibändiges Hauptwerk „Das Kapital“ zeigt.

Marx und seinen Zeitgenossen war nämlich aufgefallen, dass die entstehende Wirtschaftsordnung die alten feudalen Verhältnisse z. T. gewaltsam überwand, Leibeigenschaft aufhob, Sklaverei beendete und damit die Menschen aus ihren herkömmlichen Abhängigkeiten befreite und doch nur kleinen Kreisen eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse verschaffte. Offensichtlich sorgten die neuen, marktwirtschaftlichen Mechanismen dafür, dass neue, bisher unsichtbare Wege der Schaffung von Reichtum auf der einen Seite und Armut auf der anderen existierten. Diese Mechanismen, insbesondere den Zusammenhang von Freiheit und Lohnarbeit zu entschlüsseln, war das Ziel der Kapitalismuskritik, um darauf aufbauend Wege der Überwindung dieser Verhältnisse zu finden. Kapitalismuskritik hieß also, nach der Abschaffung von Sklaverei und Feudalismus die neue Wirtschaftsordnung ebenfalls als menschengemachtes gesellschaftliches Verhältnis zu identifizieren, das zu ungleicher Verteilung von Einkommen und Vermögen führt und dem Krisen unausweichlich inhärent sind.

Kapitalismuskritik bedeutet daher gerade nicht, die Marktwirtschaft/den Kapitalismus als das ultimativ Böse für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen, sondern im Gegenteil sein großes Freiheits- und Wohlstandsversprechen als weder notwendig gegeben noch krisenresistent zu verstehen und daher nach Alternativen zu suchen. Diese können in der politischen Gestaltung dieser Wirtschaftsordnung (etwa durch die Sozialdemokratie) ebenso liegen wie in ihrer Überwindung (Schaffung einer anderen Wirtschaftsordnung, was bisher im Hinblick auf den Sozialismus noch nicht erfolgreich realisiert wurde).

Was aber Kapitalismuskritik keinesfalls sein sollte, ist das Favorisieren von Sklavenhaltergesellschaften, von Neofeudalismus, von Mafiastrukturen oder rassistischen Massenmorden. Und ob auf diesem Weg der Schnupfen besiegt werden kann, ist ebenfalls mehr als zweifelhaft.

Outsourcing

Anlässlich des Vorschlags hochrangiger CDU- und FDP-Politiker sowie der baden-württembergischen Grünen, Asylverfahren außerhalb Europas durchzuführen, ist es angebracht, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Da diesen Politikern nicht unterstellt werden soll, durch Outsourcing der Asylverfahren etwa an einen afrikanischen Folterstaat das „Asylproblem“ exterminatorisch lösen lassen zu wollen (für solche Vorschläge gibt es andere Parteien), ist der Sinn dieses Vorhabens woanders zu suchen.

In einem Beitrag für die F.A.Z. formulieren der NRW-Integrationsminister Stamp (CDU) und Finanzminister Lindner (FDP) das Ziel einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik folgendermaßen: „Eine liberale Einwanderungspolitik, wie sie uns vorschwebt, muss auf Kontrolle, klaren Regeln und funktionierendem Management basieren …“ (zit. n. www.fdp.de/seite/dossier-neuanfang-der-migrationspolitik)

Damit wird klar, dass das Problem nicht in irgendwelchen materiellen Engpässen gesehen wird, sondern in der Überforderung der zuständigen Verwaltungen. Unabhängig davon, ob dies an der mangelnden personellen Ausstattung oder der geringen Arbeitsleistung der dort Beschäftigten liegt, besteht „funktionierendes Management“ bei den aktuellen Vorschlägen offensichtlich darin, Verwaltungsleistungen via Outsourcing erbringen zu wollen. Dass dies auf Kosten der Betroffenen geht, ist insofern uninteressant, als es sich um eine gängige Praxis bei dysfunktionalen Strukturen und Verhaltensweisen im Bereich öffentlicher Dienstleistungen handelt. Jeder Bahnkunde hat dies bereits mehrfach am eigenen Leib erfahren.

Daher sollte das Outsourcing-Modell nicht auf Asylverfahren beschränkt bleiben; es gibt noch genügend andere Bereiche, in denen öffentliche Dienstleistungen nur rudimentär erbracht werden. So wäre es sicherlich überaus effektiv, Outsourcing etwa bei der Rentenversicherung vorzunehmen. Als Standorte kämen Mallorca (für Besserverdienende) und Moldawien (für Bedürftige) in Betracht. Gerichtsprozesse können wesentlich zeitsparender und endgültiger in Nordkorea oder Saudi-Arabien durchgeführt, Bürgergeld in der Ukraine oder Syrien beantragt werden, und für Bauanträge bietet sich Legoland an. Nur das Abnicken von Steuersparmodellen sollte weiter in Deutschland passieren.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025 Heulen Eulen?

Theme von Anders NorénHoch ↑