Heulen Eulen?

Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

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Leistungsgesellschaft ?

Als der Fußballspieler Cristiano Ronaldo auf seinen 94 Millionen Euro teuren Transfer von Manchester United zu Real Madrid angesprochen wurde, soll er folgendermaßen darauf reagiert haben:

„Ich glaube, dass die Ablösesumme gerechtfertigt ist. … Nur soviel: Große Fußballer kosten viel Geld. Wenn man sie haben will, muss man eben dafür zahlen. … Ich werde beweisen, dass ich das wert bin, was für mich bezahlt worden ist.“ (Quelle: http://www.tagesspiegel.de/2009-07-04-neuss-ronaldo-94-millionen-euro-sind-gerechtfertigt/1551062.html)

Im letzten Satz formuliert Ronaldo das Mantra der sog. Leistungsgesellschaft: Wer etwas leistet (in seinem Fall: von dem man hofft, dass er etwas leisten wird), erhält mehr Geld als jemand, bei dem das nicht der Fall ist. Soweit, so einfach. Aber ist das tatsächlich so? Bringt Ronaldo mehr Leistung als ein Volleyballer, als ein Ringer? Bringt Madonna mehr Leistung als die Wildecker Herzbuben? Und wenn ein Konzernchef 1 Million Euro pro Monat verdient und seine Putzfrau 1000: Ist das Ausdruck von Leistung, gar von tausendfacher Leistung? Die Antwort auf diese Fragen muss selbstverständlich „nein“ lauten. Und zwar aus zwei Gründen.

Ronaldo gibt selbst den ersten Grund an: Wenn man bestimmte Fußballer verpflichten will, muss man dafür zahlen – und zwar weil andere Nachfrager um diese Fußballer konkurrieren. Es ist die Logik der Marktwirtschaft, von Angebot und Nachfrage, die zu den jeweiligen Preisen, und das heißt auch: zum entsprechenden Einkommen führen. Und da die Nachfrage nach Putzfrauen zwar groß ist, aber das Angebot noch viel größer, hat jemand mit dieser Tätigkeit nur geringe Chancen auf ein nur annähernd so hohes Einkommen wie ein CEO. Die Logik der Marktwirtschaft ist demnach der erste Grund, warum das mit der Leistungsgesellschaft nicht so ganz hinhaut.

Aber es gibt noch einen zweiten Grund. Und der hängt damit zusammen, dass das mit der Marktwirtschaft auch so eine Sache ist. Schon wenn wir uns ein ganz simplen Markt – z. B. einen Wochenmarkt – ansehen, wird klar, dass mit dem Spiel von Angebot und Nachfrage höchstens die Oberfläche dessen zu Tage tritt, was einen Markt ausmacht. Es beginnt schon damit, dass nicht jeder, der etwas zu verkaufen hat, auf dem Wochenmarkt zu finden ist. Es gibt also Zugangsbeschränkungen. Und es gibt Hygienevorschriften. Und Preisauszeichnungsvorschriften, Bestimmungen für die Betriebsdauer eines Standes und und und. Das alles kann natürlich gut begründet werden; es geht aber nichts an der Tatsache vorbei, dass das Geschehen auf einem Markt zum Großteil von nicht marktwirtschaftlichen Einflussfaktoren bestimmt wird, konkret: von Elementen politischer Macht wie Gesetzen, Vorschriften, Genehmigungen usw.

Gewinne eines Unternehmens hängen damit zu einem großen Teil davon ab, welche außerwirtschaftlichen Gegebenheiten sie vorfinden, die Politik (womit nicht nur der Staat gemeint ist, sondern z. B. auch machtvolle soziale Bewegungen) wiederum nimmt Einfluss auf die Marktwirtschaft, um etwa die dort ebenfalls existierenden Formen von Machtanhäufung zu beeinflussen. Genannt sei hier nur die Frage, inwieweit Monopole oder Kartelle zugelassen oder verhindert werden. Die tausenden von Lobbyisten in den Wandelgängen der Parlamente zeigen ebenfalls, dass die Marktwirtschaft so marktwirtschaftlich nicht ist, ja auch nicht sein kann. Wenn etwa vom „Abbau bürokratischer Hindernisse“ die Rede ist, die nötig seien, um die Wirtschaft zu fördern, so betrifft das immer den Nutzen ganz bestimmter Marktteilnehmer und den Schaden anderer.

Auch auf der Ebene des Einkommens geht es grundsätzlich um Machtfragen, wenn scheinbar wirtschaftliche Themen angesprochen werden: Dass sich Arbeiter in Gewerkschaften organisieren, um der Lohnfestsetzungsmacht von Unternehmen etwas entgegen zu setzen, ist keine marktwirtschaftliche Tätigkeit, sondern eine politische. Dass ein Schuldirektor mehr verdient als der Hausmeister der Schule, ist eine politische Entscheidung. Dass Zuwanderung gesteuert wird, etwa in Fragen der Niederlassungsfreiheit für ausländische Ärzte – ist eine Machtfrage. Dass das Honorar von Ärzten, Steuerberatern usw. durch Gebührenordnungen geregelt wird, nicht durch Angebot und Nachfrage – ist eine Machtfrage. Und dass man Flüchtlinge lieber im Mittelmeer ertrinken als einfach einwandern lässt, wo sie dann in Konkurrenz zu etablierten Wirtschaftssubjekten treten könnten – ist eine Machtfrage. Apropos Flüchtlinge: Der Hass, der ihnen mancherorts entgegen schlägt (und meist von Leuten, die ihr Einkommen nicht auf einem Markt erzielen, sondern politisch zugewiesen bekommen, etwa Rentner), ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass sie Marktwirtschaft pur verkörpern. Sie investieren nicht nur viel Geld, sondern oft sogar ihr Leben, sie beleben einen ebenfalls nach Angebot und Nachfrage funktionierenden Wirtschaftssektor (die sog. Schleuser), und sie haben einen unsicheren Ertrag. Ganz wie es die Lehrbücher der Ökonomie verkünden. Dass sie vom Marktzutritt abgehalten werden sollen (am besten mit Flüchtlingslagern in Nordafrika), ist – na klar – eine Machtfrage.

Wie das Leistungsprinzip angesichts des Einsatzes von politischer Macht zur bloßen Ideologie verkommt, kann an einem kleinen Beispiel verdeutlicht werden. Zahlreiche Rechtsgeschäfte sind auf die Mitwirkung eines Notars verpflichtet; dessen Preise sind ebenso staatlich festgesetzt wie die Tätigkeit selbst auf einer staatlichen Zulassung beruht. Es gibt aber wohl keinen Notar, der sein Einkommen nicht als seiner Leistung entsprechend bezeichnen würde. Da hilft nur ein kleines kontrafaktisches Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, der Notarberuf wäre frei zugänglich für jeden Absolventen einer juristischen Fakultät (auch das schon eine nicht-marktwirtschaftliche Festlegung, aber das soll hier nicht stören), egal aus welchem Land, und die Preise für einzelne Leistungen wären frei aushandelbar, während es keinerlei Vorschriften mehr gäbe, wann ein Notar eingeschaltet werden müsste. Auf der anderen Seite würde festgelegt, dass Blumen nur noch vor Personen mit floristischem Hochschulabschluss verkauft werden dürften, pro 100.000 Einwohner gäbe es eine festgelegte Anzahl von Floristen bei gleichzeitig garantiertem Mindestpreis für Blumen und der gesetzlichen Vorschrift, pro Woche mindestens eine nahe stehende Person mit einem Blumenstrauß zu erfreuen. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass die Floristenkammer nicht umhin käme davon zu schwadronieren, dass die hohen Einkommen der Floristen lediglich Ausdruck ihrer hohen Leistungsbereitschaft seien. Und die Notare sollten sich gefälligst nicht beschweren, sondern einfach bessere Arbeit leisten.

Selbstverständlich soll hier nicht der Verzicht auf politische Eingriffe in den Markt vertreten werden. Es ist schon schön zu wissen, dass ein Bierbrauer nicht alles in sein Produkt mischen darf (Reinheitsgebot!), und es beruhigt, dass für die Tätigkeit als Chirurg bestimmte Voraussetzungen gelten. Von den Regelungen bei der Produkthaftung oder der politischen Steuerung von Wasserpreisen ganz abgesehen. Es gibt sehr gute – und manchmal auch recht schlechte – Gründe, einzelne marktwirtschaftliche Prozesse zu steuern. Es sollte nur klar sein, dass das alles nichts mit Leistung zu tun hat.

Daraus ergibt sich folgendes: Es ist offensichtlich, dass Einkommen in erster Linie von politischen Festlegungen unterschiedlichster Art, in zweiter Linie von Angebot und Nachfrage und erst ganz zuletzt von individueller Leistung abhängt. Dass gerade diese Hierarchie von Faktoren im öffentlichen Bewusstsein nicht nur nicht existiert, sondern umgekehrt wird, und dass das von den meisten Leuten auch noch geglaubt wird, ist – so muss man es anerkennen – eine herausragende Leistung von Propaganda, Ideologiebildung und Gehirnwäsche.

Nur deshalb kann es Menschen geben, die glauben, in einer Castingshow dank ihrer Leistung gewinnen zu können, während sie doch nur nützliche Idioten in einem System sind, das politische Macht (warum ist Zwergenwerfen verboten, nicht aber das „Topmodel“?), die Steuerung durch die Sendungsmacher (die durch die Verträge, aber auch die Sendungsgestaltung die Mitwirkenden zu Leibeigenen der Veranstalter machen) und die simplen Mechanismen von Angebot und Nachfrage mit Elementen populistischer Demagogie verschmelzen. Vielleicht sollte man also doch das Unsinnsgerede von der Leistungsgesellschaft ein bisschen korrigieren. Und das nicht nur in diesem Blog.

Die aktuelle Lust am Beleidigt-Sein

Zur Zeit liest und hört man sehr viel von Leuten, die beleidigt sind. Oder die man zumindest beleidigen könnte, indem man ihre Gefühle verletzt. Dabei geht es insbesondere um religiöse, nationale und ethnisch-völkische Gefühle (zu letzterem siehe diesen Post). Nun ist Beleidigt-Sein oder -Werden zunächst eine recht individuelle Aktivität, die von den Beteiligten ein besonderes Sender-Empfänger-Verhältnis verlangt, um auch gesellschaftlich interessant, also zum Beispiel gerichtsrelevant zu werden: Wenn der Sender jemanden beleidigt, der Empfänger das aber nicht so wertet, also nicht beleidigt ist, dann ist diese Beleidigung gesellschaftlich inexistent. Im umgekehrten Fall, wenn der Sender jemanden nicht beleidigen will, es aus seiner Sicht also auch nicht tut, kann der Empfänger zwar beleidigt sein, wird aber mit dieser Auffassung keine gesellschaftliche Resonanz, etwa ein Gerichtsurteil, erreichen. Nur wenn die Kommunikation vollständig ist, d. h. ein Beleidiger auf jemanden trifft, der dann auch beleidigt ist, wird üblicherweise die Beleidigung zu einem überindividuellen Akt; es folgt etwa eine Gegen-Beleidigung, ein Vermittlungs- oder Verstärkungshandeln von Dritten oder eine Sanktion durch Autoritätspersonen oder ein Gericht.

Der aktuelle Diskurs über Beleidigt-Werden und verletzte Gefühle dreht sich jedoch gar nicht um den geschilderten Fall von Interaktion zwischen Einzelpersonen (etwa: „Du Trottel!“), sondern um kollektives Beleidigt-Sein, um kollektive Gefühle, bei denen es auch ganz und gar nicht darum geht, dass Sender und Empfänger sich aufeinander beziehen, sondern um den Anspruch auf Deutungshoheit seitens der Beleidigten, die definieren, wodurch sie beleidigt werden, und von den subjektiv vielleicht gar nicht beleidigenden Sendern die Einsicht in ihr beleidigendes Verhalten und eine Verhaltensänderung einfordern.

Die Begründung dafür, warum sie beleidigt sind, auch wenn das die Sender eventuell gar nicht beabsichtigt haben, lautet, dass ihre Gefühle verletzt wurden. Sieht man sich diese Gefühle, die da verletzt werden, genauer an, zeigt sich, dass offensichtlich nur bestimmte Gefühle verletzt werden können, um eben dadurch zum Beleidigt-Sein der dann Beleidigten zu führen.

Betrachten wir dazu ein paar Gefühlsarten: Die am stärksten mit der bloßen Existenz des Menschen verbundenen Gefühle sind wohl Gefühle wie Hunger, Schmerz, Kälte und ähnliches. Dass derartige Gefühle verletzt werden oder Menschen sich dadurch beleidigt fühlen, ist bisher unbekannt. Offensichtlich taugen diese Gefühle nicht zum Beleidigt-Sein; ein Hungernder ist hungrig, nicht beleidigt.

Ein zweiter Typ von Gefühlen ist nicht derart unmittelbar an die Biologie des Menschen gebunden, sondern wird anerzogen oder anderweitig erlernt: dazu gehören Gefühle wie Dankbarkeit, die romantische Liebe oder Ekel vor bestimmten Dingen. Hier werden gesellschaftlichen Normen und Distinktionsvorgaben internalisiert und zu Elementen des eigenen Gefühlslebens. Diese Gefühle können zwar verletzt werden (etwa durch die Zurückweisung seitens einer geliebten Person oder in Form von Folterpraktiken, die Ekelgefühle instrumentalisieren); sie sind aber nicht Grundlage kollektiven Beleidigt-Seins.

Eine recht heterogene Kategorie von Gefühlen sind Ängste oder Phobien. Während etwa Höhenangst oder die Angst vor Spinnen recht eng mit fundamentalen körperlichen Empfindungen verbunden sind, weisen andere Phobien einen recht hohen Grad an (scheinbarem) Wissen auf: Angstgesteuerte Abstinenzen bei bestimmten Lebensmitteln (Milchprodukte, Getreideerzeugnisse usw.) gründen ebenso wie die Furcht vor Erdstrahlen oder unterirdischen Wasserläufen auf einem teilweise recht anspruchsvollen alltagstheoretischen Konstrukt der Welt. Die entsprechenden Gefühle übersetzen dieses Wissen in handlungssteuernde Befindlichkeiten. Selbstverständlich kann man etwa die Phobien einzelner Menschen spöttisch kommentieren, diese mögen dadurch auch beleidigt sein; dies bleibt jedoch üblicherweise ein rein individuelles Problem und soll daher hier nicht weiter diskutiert werden.

Einige Einträge in den fast endlosen Listen diagnostizierter Phobien weisen jedoch bereits auf einen anderen, letzten Typ von Beleidigt-Sein/-Werden hin. Ein Beispiel ist die sog. Wiccaphobie, die Angst vor Hexen. Auch hier haben wir ein bestimmtes Wissen, und zwar über die Fähigkeit bestimmter Personen zu zaubern und anderen Menschen dadurch Böses zu tun. Dieses Wissen ist ebenfalls mit Gefühlen, nämlich Ängsten verbunden, und man kann wie bei den anderen Phobien diese Gefühle verletzen, indem man sich zum Beispiel über sie lustig macht. Dies ist jedoch nur in solchen Gesellschaften möglich, in denen ein weitestgehender Konsens über die Nicht-Existenz von Hexen existiert. Wird die Phobie zum Massenphänomen wie etwa im europäischen Spätmittelalter oder heute in Teilen Afrikas, dann handelt es sich nicht mehr um individuelle Pathologien, sondern um einen Aspekt bzw. ein Element von Religion, die – wie bereits einleitend erwähnt wurde – offensichtlich beleidigt werden kann. Dann wandelt sich das, was auf individueller Ebene kaum größere Bedeutung hat, zu einem fundamentalen Problem: eine Religion wird angegriffen, wird beleidigt, denn ihre Angehörigen fühlen sich in ihren Gefühlen verletzt.

Exkurs:
Wenn eine Religion, eine Nation oder eine ethnisch-völkische Gruppe beleidigt ist, d. h. sich beleidigt fühlt, dann ruft das nach Sanktionen. Hier eröffnen sich mehrere Möglichkeiten: Nationen werden üblicherweise dadurch beleidigt, dass ihre Symbole beleidigt werden. Staaten, auch solche der sog. zivilisierten Welt, stellen dann z. B. das Verächtlich-Machen der Flagge oder des Wappentiers unter Strafe. So ist die Nation gleich weniger beleidigt.

Auch die Religion wird staatlicherseits verteidigt. In Deutschland wird in §166 die „Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen“ bestraft, was daran gemessen wird, dass der „öffentliche Frieden“ gestört wird, d. h. davon abhängt, dass möglichst viele Mensch ihre Religion als beleidigt ansehen. Beleidigung ist hier wieder ausschließlich eine Definition seitens des Empfängers, nur diese entscheiden, ob und wann sie beleidigt wurden.

Noch problematischer wird es aktuell dann, wenn einzelne Personen andere für deren Beleidigung Gottes bestrafen, gerne auch töten. Denn eigentlich wäre es ja die Angelegenheit Gottes, sich beleidigt zu fühlen und die Bösewichter entsprechend zu züchtigen. Aber ein solches Vertrauen in die (All-)Macht Gottes haben diese Menschen anscheinend nicht. Obwohl Gott nicht nur die Welt und den Menschen geschaffen sowie gezeigt hat, dass er z. B. in der Lage und auch willens ist, die sündige Menschheit mit Ausnahme eines inzestuösen Vaters und seiner ebensolchen Töchter durch eine große Flut auszurotten, traut man ihm heute nicht mehr zu, mit denjenigen, die ihn verhöhnen und beleidigen, selbst fertig zu werden. Die sich beleidigt fühlenden Menschen sind also stellvertretend beleidigt, sie setzen sich an die Stelle eines Gottes, dem es offensichtlich einerlei ist, ob er beleidigt wird oder nicht. Man fragt sich, ob er mit einem solchen Typ von Gläubigen sehr zufrieden ist; es sieht aber so aus, als wäre ihm auch das nicht besonders wichtig.

Was sind aber religiöse oder nationale Gefühle? Was ist ihr Stellenwert innerhalb dessen, was man Religion oder Nationalismus nennt? Sieht man sich z. B. eine der großen monotheistischen Religionen an, zeigt sich, dass sie eigentlich ein Konglomerat aus (vorgeblichem) Wissen und kultischen Praktiken ist. Das Wissen reicht von der Existenz Gottes selbst über zahlreiche Geschichten über seine Taten bis hin zu Aussagen darüber, welche Ansprüche Gott an die Menschen hat und was diese besser bleiben lassen sollten. Nun ist Wissen üblicherweise nur sehr eingeschränkt mit Gefühlen verbunden; simples Faktenwissen („Paris ist die Hauptstadt Frankreichs“) ist ebensowenig gefühlsmäßig unterfüttert wie Einsichten in komplexere Vorgänge (z. B. das Funktionieren der Deutschen Bahn oder das Klima). Wo ist dann der Platz für Gefühle in einer Religion?

Ganz offensichtlich spielen Gefühle genau dort eine zentrale Rolle, wo religiöses Wissen entweder in Widerspruch zu eigenen Erfahrungen tritt oder sich als in sich widersprüchlich und inkonsistent (etwa beim Vergleich einzelner Stellen in den jeweiligen heiligen Büchern) erweist. Religiöse Gefühle schützen also das religiöse Wissen vor dem Alltagswissen und der prüfenden Reflexion, füllen Lücken und überbrücken Widersprüche. Oder kurz: Religiöse Gefühle retten die Religion vor dem Verstand. Gleiches gilt selbstverständlich auch für nationale Gefühle, was hier nicht weiter erläutert werden muss.

Eine Beleidigung von Religion wird akut, wenn Menschen ebendiese Kluft zwischen ihrem außerreligiösen und ihrem religiösen Wissen alltagspraktisch erfahren und zusätzlich auch noch darauf hingewiesen werden. Dann sind die religiösen Gefühle verletzt, die Menschen sind beleidigt. Vielleicht trügt der Eindruck, aber es scheint eine zunehmende Anzahl von Personen zu geben, die auf den Verlust ihrer Illusionen mit besonderer Aggressivität gerade gegen diejenigen reagieren, die diese Illusionen auch noch als solche benennen. Denn es würden ja Gefühle verletzt, die Träger dieser Gefühle damit zutiefst beleidigt.

Demgegenüber sind rationale Aussagen irgendwie nebensächlich: Wenn ein Gefühl verletzt ist, dann ist das offenbar wesentlich schlimmer als wenn der Verstand durch Religion beleidigt wird. Eines immerhin mag den Beobachter noch positiv stimmen: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die auf eine spezifische Form von Beleidigung bisher nicht aggressiv reagieren; und zwar genau diejenigen, deren Verstand durch die Existenz religiöser und nationaler Gefühle beleidigt wird.

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