Heulen Eulen?

Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Seite 26 von 31

Panik-Porno

In der Süddeutschen Zeitung fanden sich am 10./11.10.2015 folgende Zeilen über einen Aspekt der sog. Flüchtlingskrise: „Kürzlich wurden in Mähren elf Musiker aus Benin, die zu einem Volksmusikfestival gekommen waren, verhaftet. Ein ‚besorgter Bürger‘ geriet in Panik, sie könnten illegale Einwanderer sein. Ein anderer war außer sich, als er sah, wie Fremde im Wald einen Bunker bauten. Es waren Waldarbeiter. Und neulich hat eine junge Frau die Polizei alarmiert, weil sie angeblich einen bewaffneten Islamisten gesehen hat. Es war ein Schornsteinfeger.“ (S. 18) In Ungarn kam es zu einer Begegnung von drei Landvermessern und sechs zur Landschaftspflege zwangsverpflichteten Frauen, bei der jede Gruppe die andere für Flüchtlinge hielt, woraufhin die Geodäten sich kopfüber in einem Maisfeld versteckten und die Frauen voller Panik in ihr Dorf zurückradelten und einen Notruf an die Polizei absetzten. Erst diese konnte die Situation klären.

Dies alles ist mit Panik wohl am zutreffendsten beschrieben. Selbstverständlich gibt es angstgesteuertes Verhalten auch auf anderen Gebieten; zahlreiche Menschen fürchten sich vor Erdstrahlen, Außerirdischen, Lebensmitteln, der Technik, dem Strafgericht Gottes usw. Das Besondere an Panik ist, dass in diesem Zustand die Angst so groß ist, dass es – wie es auf Wikipedia feinsinnig umschrieben wird – „zu einer Einschränkung der höheren menschlichen Fähigkeiten kommen“ kann. Es geht also um das Aussetzen des Verstandes.

Panik wird üblicherweise psychologisch erklärt – etwa wenn es in einer dicht gedrängten Menschenmenge zu unkontrolliertem Verhalten kommt (z. B. bei der Love Parade in Duisburg 2010). Dann übernimmt der Körper die Regie über den Kopf, und aus einer stammesgeschichtlich sinnvollen Reaktionsweise wird ein (selbst-)zerstörerisches Verhalten. Zwei andere Punkte sind mir hier jedoch wichtiger.

Da ist zum einen das bewusste oder zumindest bewusst in Kauf genommene Hervorrufen von Panik zum Zweck des eigenen Vorteils. Denn wenn Angstgefühle sich zu einem Umfang auswachsen, bei dem der Verstand ausgeschaltet wird, schlägt die Stunde der Manipulatoren. Zu gewinnen gibt es vielerlei, sei es durch den Verkauf von Esoterika im TV-Shopping, die vor diffusen Gefahren schützen sollen, sei es durch das gleichzeitige Schüren der Angst vor dem Ende des Euro und dem Verkauf von Gold auf der Webseite der AfD.

Und nicht zuletzt geht es um politischen Gewinn, wenn Politiker Panik erzeugen vor Flüchtlingen, die etwa in Ungarn durchgehend als Terroristen und/oder Agenten der „Umvolkung“ bezeichnet werden. Dadurch hat es die dortige Regierung geschafft, ihre Zustimmungsraten wieder auf den Stand zu heben, den sie aufwiesen, bevor es durch die geplante Einführung einer Gebühr für Internetnutzung zu einem rapiden Beliebtheitsschwund kam. Auch die aktuellen Seehofereien in Bayern sind diesem Zweck der Panikmache zuzuordnen. All das sind gut bekannte und dokumentierte Elemente des bewussten Schürens von Panik: die bessere Manipulation der Adressaten durch die Reduktion des Denkvermögens mittels Angsterzeugung.

Noch wichtiger scheint mir ein zweiter Punkt zu sein, der in der Diskussion über Panikverhalten kaum eine Rolle spielt. Wenn man sich die einschlägig bekannten Argumentationen der „besorgten Bürger“ auf Informationsveranstaltungen zur Flüchtlingsfrage zu Gemüte führt, können die Ängste vor den unheimlichen Fremden, ihrer rätselhaften Kultur und der dräuenden Kriminalität kaum mit der Massenpanik in akuten Notsituationen verglichen werden. Denn es bestand und besteht ja genügend Zeit, sich zu informieren und auf diesem Wege auch wieder zur Nutzung rationaler Überlegungen zu gelangen. Offensichtlich wollen das jene Leute aber nicht.

Selbstverständlich kann hinter einem solchen Verhalten eine rassistische und rechtsradikale Grundeinstellung stecken; ich denke aber, dass hier ein anderer Mechanismus wirkt. Der Schlüssel dürfte in der direkten Wirkung von Panik auf den Körper, unter Umgehung des Verstandes, liegen, ist diese Reaktion auf einen Auslöser in ihrer Unmittelbarkeit doch ein wesentlich stärkeres Gefühl als eine bloße Schlussfolgerung aus einer rationalen Überlegung. Diese Stärke des Gefühls teilt sich Panik mit der Pornographie, die ja ebenfalls den (bildlichen oder textlichen) Reiz direkt in körperliche Reaktion überführt. Und ebenso wie Pornographie nicht zu widerlegen ist (da ihr ja keine verstandesmäßige Rezeption zu Grunde liegt), kann auch gegen die panische Angst vor Flüchtlingen kaum argumentativ vorgegangen werden. Das hohe Maß an direkter körperlicher Wirkung verhindert dabei das Einschalten rationaler Verstandestätigkeit, denn nur so ist das Maximum an Gefühlsstärke zu erreichen. Wie in der Pornographie auch nutzt sich jedoch die panische Angst (z. B. vor Flüchtlingen) relativ schnell ab, derselbe Reiz hat nicht mehr dieselbe (starke) Wirkung. Deshalb muss nachgelegt werden: Aus diffuser privater Angst wird öffentliche Hetze wird Brand- und Mordanschlag. Das ist der Panik-Porno.

P.S.: Wer glaubt, durch das „Ernstnehmen der Sorgen“ den Panik-Porno aufhalten zu können, ist deshalb: ein Idiot.

Werte

Wenn es heute darum geht, dass z. B. der ungarische Staat ankommende Flüchtlinge misshandelt, dann heißt es häufig, dass die Menschenwürde mit (ganz konkreten) Füßen getreten werde. Die Empörung darüber speist sich aus der Vorstellung, dass dort grundsätzliche, europäische oder sonstwie verortete Werte verletzt werden. Werte sind die letztgültige moralische Grundlage menschlichen Handelns, die sich Gesellschaften als Selbstdefinition wählen – wie dies etwa auf die Menschenwürde zutrifft, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als zentrale Richtschnur staatlichen Handelns definiert wird. Etwas weniger grundsätzlich, mehr der Alltagspraxis verpflichtet sind die damit im Zusammenhang stehenden Normen, die z. B. in Gesetzen konkretisiert werden; zu nennen wäre hier unter anderem die unterlassene Hilfeleistung, die eine Straftat ist. Die aktuellen Auseinandersetzungen über den Umgang mit Flüchtlingen, denen von manchen die Menschenwürde abgesprochen wird und denen gegenüber unterlassene Hilfeleistung keine Straf-, sondern eine Heldentat ist, künden demnach durch in ihrer Vehemenz von einem Konflikt um Werte und Normen.

Dabei geht es um zwei Fragen: Welche Werte sollen gelten bzw. welche Normen sollen zu gesellschaftlicher Praxis werden? Und für wen gelten diese Werte und Normen?

Diese Fragen enthalten bereits den Hinweis, dass einzelne Gesellschaften sich ganz unterschiedliche Antworten darauf gegeben haben. Ein – zugegebenermaßen stark vereinfachter Blick – auf vormoderne Gesellschaften der Neuzeit zeigt eine Aristokratie, für die Werte wie Würde, Ehre und ähnliches an erster Stelle stehen, während das einfache Volk sich nach der Freiheit von Bevormundung und Unterdrückung sehnt. Mit der Entstehung der modernen demokratischen Gesellschaften kommt es notwendigerweise zu einer innergesellschaftlichen Vereinheitlichung der Werte, jedoch mit deutlichen Unterschieden zwischen den Gesellschaften. In den alteuropäischen Gesellschaften werden die aristokratischen Werte zu allgemeinen Werten; die erwähnte Bedeutung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz zeugt davon. In den USA hingegen findet eine Konzentration der Werte auf die Orientierung der Unter- und Mittelschichten statt, d. h. auf das unhintergehbare Recht von Individuen, ihr Glück zu machen („pursuit of happiness“). Beide Wertorientierungen bieten an sich eine tragfähige Grundlage für den Umgang mit Flüchtlingen: ihnen zu helfen als Akt der Realisierung menschlicher Würde oder ihnen zuzugestehen, dass sie alles tun, um ihre Situation zu verbessern. Dass beides heute in Frage gestellt wird, ist daher nicht das Resultat auf die Frage, welche Werte gelten sollen, sondern auf die Frage, für wen diese Werte gültig sind.

Für vormoderne Gesellschaften ist eine entsprechende Selektivität der Normalfall. Wenn im antiken Griechenland alle Nicht-Griechen zu rechtlosen „Barbaren“ erklärt werden, wenn der europäische Kolonialismus die Einwohner Afrikas und Amerikas zu „Wilden“ macht, die straflos versklavt und zum Opfer von Menschenjagden gemacht werden können, dann ist offensichtlich, dass die Werte der einen nicht für die anderen gelten. Auch Demokratien sind vor solcher Ungleichheit nicht gefeit; so bezog sich die Gleichberechtigung aller Bürger in den Vereinigten Staaten des 18. und im Großteil des 19. Jhs. nicht auf die Sklaven, und die gesellschaftliche Gleichwertigkeit von Frauen wurde weltweit noch deutlich später anerkannt. Erst mit der Durchsetzung der Moderne wurde die Werte universell, d. h. gelten innerhalb einer Gesellschaft für alle gleichermaßen. Und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 wird sogar eine globale Gültigkeit von Werten verkündet. Damit – so scheint es – ist zumindest auf der deklaratorischen Ebene die Moderne vollendet.

Aus dieser Sicht sind Phänomene wie der Rassismus des Nationalsozialismus mit seiner Entmenschlichung von „Juden“ und „Zigeunern“ Zeichen einer noch nicht vollzogenen Moderne, die dann erst nach 1945 ihren Einzug in Deutschland hält. Aber was ist dann mit den aktuellen Vorkommnissen in der Flüchtlingsfrage, wenn etwa die dänische Integrationsministerin (!) meint, Dänemark könne viele Flüchtlinge aufnehmen, „aber da sehe ich einfach keinen Grund zu“ (http://www.tagesschau.de/ausland/marchofhope-103.html)? Und kann man allen Ernstes behaupten, Ungarn behandle die Hilfesuchenden auch nur im Entferntesten wie Menschen? Auch die Hasspostings und die Brandanschläge in Deutschland lassen vermuten, dass die Moderne mit ihren universalistischen Werten doch weniger weit verbreitet ist als allgemein vermutet.

Es wäre sicherlich fehl am Platze, solche Einstellungen als Überbleibsel des 19. Jahrhunderts oder gar als Ausdruck primitiver Hordenreflexe zu interpretieren – was auch daran liegt, dass seit Jahren in vielen europäischen Ländern die rassistische Exklusion auch der eigenen Staatsbürger (so etwa der Roma in Osteuropa) nicht zurückgeht, sondern immer weiter um sich greift. Vielmehr dürfte es sich um Wert-Verschiebungen zu handeln, die mit Veränderungen der modernen Gesellschaft selbst zusammenhängen. Als mögliche Erklärungsperspektiven bieten sich Stichpunkte wie Neoliberalismus oder Postdemokratie (vgl. Colin Crouch) an; aber das ist bereits eine andere Geschichte. Nur eines soll festgehalten werden: An der Flüchtlingsfrage entscheidet sich nicht alleine, aber auch, welche Bedeutung die Moderne und ihr universalistisches Wertsystem in unserer und den anderen Gesellschaften (noch) haben.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025 Heulen Eulen?

Theme von Anders NorénHoch ↑