Heulen Eulen?

Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Seite 25 von 31

Darwin vs. Schönheits-OP

Eigentlich erklärt der Darwinismus den Wandel der genetischen Ausstattung einzelner Arten recht schlüssig: Es kommt erstens immer wieder zu zufälligen (wenn Menschen als Tier- oder Pflanzenzüchter auftreten, auch geplanten) Mutationen der Erbanlagen, was zweitens in den meisten Fällen keine Auswirkungen hat, in einigen Fällen aber auch dazu führt, dass diese neue genetische Variation den jeweiligen Tieren oder Pflanzen in einer gegebenen Umwelt einen Überlebensvorteil bietet – entweder durch die Besetzung einer neuen ökonomischen Nische oder durch die Verdrängung schlechter angepasster Arten. So weit so einfach.

Schon bei vielen Tieren kommt jedoch ein zusätzlicher Faktor ins Spiel, der vielleicht am besten unter den Begriff „Ästhetik“ gefasst werden kann. Darunter ist zu verstehen, dass einzelne körperliche Merkmale, die in der Konkurrenz mit anderen Arten ohne Bedeutung sind, für die Konkurrenz in der eigenen Art entscheidend sein können, so dass das entsprechende Merkmal eine ständig stärkere Ausprägung erhält. Als Beispiel kann etwas das Hinterteil eines Pavians dienen, dessen Größe und Leuchtkraft weniger mit der Anpassung an Umweltbedingungen zu tun hat als vielmehr den potentiellen Sexualpartnern signalisiert, dass es sich bei diesem Individuum um ein besonderes, z. B. besonders starkes, fürsorgliches, vermehrungsfähiges u. ä. Tier handelt. In diesem Fall haben Tiere mit der entsprechenden genetischen Ausstattung eine bessere Chance, sich fortzupflanzen, und die – hier: – leuchtenden Hinterteile werden sich stärker verbreiten als die blasseren Exemplare. Ein solches Signal kann zutreffen oder nicht, kann in Bezug auf die Umweltanpassung irrelevant oder sogar schädlich sein. Als Beispiele für letzteres können bestimmte Vogelarten dienen, bei denen wie etwa im Fall des Pfaus ein prächtiges Federkleid die Paarungschancen erhöht, gleichzeitig aber diese Tiere leichter zum Opfer von Fressfeinden macht.

Auch beim Menschen spielt die Ästhetik insbesondere dann, wenn sie als Zeiger des sozialen Status‘ (miss)verstanden wird, eine große Rolle. Wenn etwa der Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet und dort von der Sonne braun gebrannt wird, ist Blässe das Merkmal derjenigen, die nicht im Freien arbeiten müssen, d. h. Symbol des höheren sozialen Rangs. Blässe ist dann schön. Mit dem Industriezeitalter, in dem die Arbeiter sich entweder in Fabriken oder lichtlosen Mietskasernen aufhalten, wird die gebräunte Haut zum Merkmal derjenigen, die viel Freizeit haben, in sonnigen Ländern Urlaub machen können und somit einen hohen Status aufweisen. Braun sein heißt dann schön sein. In diesem Fall steigert die genetisch verankerte dunklere Haut oder die Eigenschaft, schnell braun zu werden, die Attraktivität der jeweiligen Personen und damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese genetische Disposition besser verbreitet.

Weniger direkt mit dem sozialen Status sind andere körperliche Merkmale verbunden, die als schön oder weniger schön angesehen werden. Aber auch diese – wie etwa die Größe der weiblichen Brust oder die Nasenform – haben über ihre Bewertung als schön oder nicht schön Auswirkungen auf den Status der betroffenen Personen: „Schöne“ Menschen haben bessere Chancen auf dem Markt der Partnerwahl und können so leichter ihren Status erhöhen und haben aufgrund der damit verbundenen besseren sozialen und ökonomischen Lage auch mehr Möglichkeiten, ihre entsprechende genetische Ausstattung zu verbreiten. Kurzum: Sind Stupsnasen ein kulturell tief verwurzeltes und nicht nur einer vorübergehenden Mode geschuldetes Schönheitsmerkmal, ist zu erwarten, dass sich in dieser Population Stupsnasen weit verbreiten werden. Soweit eine kurze darwinistische Betrachtung der Bedeutung von Ästhetik und der daraus resultierenden Auswirkungen auf die Verbreitung körperlicher Merkmale.

Mit dem Aufkommen der Schönheitschirurgie ändert sich die Bedeutung körperlicher Merkmale fundamental. Nun ist das Individuum nicht mehr passiv seiner genetischen Ausstattung unterworfen, der zwar mit Kosmetik u. ä. nachgeholfen werden kann, im wesentlichen aber unveränderlich ist, sondern es können die der ästhetischen Beurteilung unterliegenden Merkmale gezielt verändert werden. Dies hat einschneidende Konsequenzen insbesondere in solchen Gesellschaften, in denen es zum Konsens gehört, den körperlichen Unzulänglichkeiten mit operativen Maßnahmen abzuhelfen. Als ein Beispiel unter unzähligen mag der Iran dienen, wo nur Frauen mit gerader Nase als schön gelten, der Nasenhöcker aber weit verbreitet und deshalb die Nasenkorrektur eine quasi alltägliche Maßnahme ist. Eine Nasen-OP ist umso wahrscheinlicher, je „hässlicher“ eine Nase ist und je besser der soziale und damit ökonomische Status der Betroffenen ist, da für arme Menschen die Möglichkeit des Aufstiegs und damit der Anreiz für einen Einsatz operativer Maßnahmen geringer ist.

Die Auswirkungen der Schönheits-OP auf die Verteilung genetischer Merkmale sind leicht zu erahnen: Da sich in erster Linie diejenigen operieren lassen, deren Nase besonders weit vom gängigen Schönheitsideal entfernt ist und zugleich über einen tendenziell höheren ökonomischen Status verfügen, verschiebt sich das Konkurrenzverhältnis auf dem Heiratsmarkt zuungunsten derer, die bereits von Natur aus über eine gerade Nase verfügen. Das Schönheitsideal der geraden Nase wird daher dazu führen, dass immer mehr Personen mit einer Höckernase geboren werden.

Schönheits-OPs konterkarieren also das beschriebene Modell der darwinistischen Selektion und verkehren es tendenziell ins Gegenteil. Anders gesagt: Die Natur lässt sich nicht von Chirurgen überlisten, sondern gibt deren Bemühungen als Karikatur der zugrundeliegenden Ästhetik zurück. Von den Göttern ist daher zur Zeit ein lautstarkes Lachen zu hören, so denn jemand über entsprechend feine Ohren verfügt.

Demokratie und Unsinn

Aktuell existieren zwei öffentlich debattierte Konzepte des „Zusammenlebens“ in Deutschland: die „Leitkultur“ und die „Demokratie“, letztere zumeist im Rückgriff auf das Grundgesetz. Die „Leitkultur“, gerne von konservativen Politikern und Publizisten vorgebracht, leidet unter zwei Problemen: Zum einen ist dies ihre Unbestimmtheit, ja Beliebigkeit. So fällt etwa in der vor einiger Zeit publizierten Liste des deutschen Innenministers nicht in erster Linie auf, was dort – unter gewöhnungsbedürftiger Anwendung der deutschen Grammatik – als Elemente von „Leitkultur“ aufgezählt wird, sondern was darin fehlt. Offensichtlich ist etwa das morgendliche Zähneputzen oder das Händewaschen nach dem Toilettengang kein Bestandteil deutscher „Leitkultur“; warum das so ist, müsste man Personen aus dem Umfeld des Ministers fragen.

Das zweite Problem baut auf dem ersten auf: Denn auch wenn eine vollständige Aufzählung der Merkmale von „Leitkultur“ vorliegt, ist nicht geklärt, wozu eine solche Liste gut sein sollte. Soll sie zur unverbindlichen Selbstverpflichtung dienen (wie es etwa die pseudo-alpine Verkleidung der Besucher des Münchner Oktoberfests ist) oder handelt es sich um die Vorstufe gesetzlicher Vorschriften? Diese Frage muss hier offenbleiben.

Die Kritiker der „Leitkultur“ formulieren als alternative Grundlage eines gedeihlichen Zusammenlebens das Bekenntnis zur Demokratie, das sich auf das Grundgesetz bezieht. Leider scheint es, als hätten die Vertreter dieser Position das Grundgesetz nie gelesen, und noch wichtiger: eine eher diffuse Kenntnis dessen, was „Demokratie“ ist und was das Grundgesetz dabei für eine Rolle spielt. Im folgenden daher einige Erläuterungen, deren zentrale Inhalte auch im gut sortierten Sozialkundeunterricht vermittelt werden.

Eine Demokratie ist (ein Sammelbegriff für) eine Herrschaftsform, d. h. ein Typus von Machtausübung. (Politische) Macht wiederum bedeutet, dass die Mächtigen, die Herrschenden andere ungestraft dazu zwingen können, dieses zu tun und jenes zu lassen, sei es Steuern zu zahlen, sei es, andere nicht nach Belieben niederzuschlagen, sei es, in die Schule zu gehen oder Soldat zu werden. All das wird auch mit physischer Gewalt (letztlich durch Polizei und/oder Militär) durchgesetzt.

Was hat das mit dem Grundgesetz zu tun? Das Grundgesetz definiert – wie andere Verfassungen auch – die Organisation und den Umfang staatlicher Herrschaft. Somit definiert sie das Verhältnis von Herrschaft und Beherrschten, das Verhältnis von Staat und Bürgern. Diese Definition dient seit den ersten Anfängen von Verfassungsgebungen nur einem wesentlichen Zweck: der Beschränkung staatlicher Willkür und damit dem Schutz der Bürger vor den Herrschenden. Indem die Verfassung festlegt, wie ein Herrschaftssystem organisiert ist und welche Macht es über die Bevölkerung hat, schränkt es diese Macht ein und steckt die Freiheitsräume für die einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Organisationen (Unternehmen, Vereine usw.) ab.

Aus dieser Perspektive ist es rätselhaft, ja nachgerade blühender Unsinn, eine Verfassung wie das Grundgesetz als Richtschnur für das Zusammenleben der einzelnen Bürger zu betrachten. Wenn Politiker derartiges äußern, kann das noch als déformation professionnelle, als unangemessene Übertragung des eigenen Berufsumfeldes auf die gesamte Gesellschaft interpretiert werden; dass Medien derartigen Nonsens unkritisch verbreiten, ist hingegen bedenklich und führt zu der Frage, woher diese umstandslose Identifikation mit einem Herrschaftssystem kommt.

Zunächst ist es gut nachvollziehbar, dass jemand die Demokratie einer feudalen Adelsherrschaft oder einer Diktatur vorzieht. Zugleich zeigen die aktuellen Entwicklungen in zahlreichen Demokratien, dass viele Menschen eine alternative Herrschaftsform mit meist polizeistaatlicher oder völkisch-faschistischer Ausrichtung favorisieren. Diese unterschiedlichen Einstellungen könnten zu einer Debatte über die Vor- und Nachteile (besser: die Vor- und Nachteile für wen?) einer bestimmten Herrschaftsform Anlass geben und eine sachliche Abwägung stimulieren.

Aber derartiges ist weder üblich noch erwünscht. Stattdessen dominiert bei den Anhängern des jeweiligen Herrschaftssystems eine zumeist recht hysterische Identifikation mit den Herrschenden. Wenn etwa in einer hartleibigen Diktatur wie Nordkorea der Staatschef stirbt, ist die öffentlich artikulierte Trauer nur zum Teil auf Zwang und Anpassung zurückzuführen, sondern resultiert auch aus tatsächlichen Gefühlen. Und wenn – wie während des Hamburger G20-Gipfels – 20.000 Polizisten Teile einer Großstadt besetzen und die dortige Bevölkerung zur Geisel der mächtigsten Personen der Weltpolitik wird, spricht kaum jemand von einer Gefährdung der Demokratie, die es nun zu verteidigen gelte; stattdessen werden Krawalltouristen zur Bedrohung der Demokratie stilisiert, gegen die auch – hierzulande verbotene – Gummigeschosse eingesetzt werden dürfen und die zu jagen sich Presseorgane und Facebook-Nutzer aufmachen. Diese Verschiebung aller Maßstäbe, die umstandslose Identifikation von Bürgern mit staatlicher Herrschaft ist daher der zentrale Punkt, der bei jeder Betrachtung des Funktionierens eines Herrschaftssystems analysiert werden muss.

An dieser Stelle soll der Hinweis auf ein psychologische Phänomen, das sog. Stockholm-Syndrom, das die Identifikation von Geiseln mit den Geiselnehmern beschreibt, genügen. Selbstverständlich bedarf es einer gründlichen, spätestens in der Schule beginnenden Gewöhnung an die Verhältnisse und gelungener Inszenierungen, um diesen Zusammenhang unsichtbar werden zu lassen; aber es bedarf auch der Bereitschaft der Menschen, sich mit dem jeweiligen Herrschaftssystem und nicht mit dem Widerstand dagegen zu identifizieren. Und dass eine solche Bereitschaft existiert, ist alltägliche Realität. Realität ist aber auch, dass eine besinnungslose Loyalität zu einem gegebenen Herrschaftssystem (und sei es die Demokratie) das am wenigsten geeignete Instrument ist, seiner Machtausweitung gegenüberzutreten.

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2025 Heulen Eulen?

Theme von Anders NorénHoch ↑