Heulen Eulen?

Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

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Rumpelstilzchen

Namen wird eine fast magische Qualität zugeschrieben. Als es der jungen Königin im Märchen „Rumpelstilzchen“ gelingt, den Namen des Männleins, das ihr das Kind wegnehmen will, herauszufinden, und das Wort „Rumpelstilzchen“ ausspricht, ist die Auswirkung überwältigend. Bei den Gebrüdern Grimm heißt es:

„‚Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt,‘ schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.“

Ein ähnliches Verständnis von Namen finden wir im ersten Harry-Potter-Band, als der Titelheld mit seinem Mentor Professor Dumbledore über den bösen Zauberer der Reihe spricht und ihn – wie alle anderen – als „Du weißt schon wer“ bezeichnet, woraufhin Dumbledore ihn folgendermaßen korrigiert:

„Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.“

Diese Art Wortmagie findet sich auch in vielen anderen Quellen, immer mit der Hoffnung bzw. der Furcht verbunden, das Aussprechen eines Namens könne eine Veränderung hin zum Guten oder zum Bösen bewirken.

Was bereits im Hinblick auf Namen, die ja die eindeutige Benennung eines Individuums bezwecken, als recht seltsame Denkweise gelten muss (und daher gut zur fantastischen Literatur passt), ist nachgerade bedenklich, wenn es um eine andere Form von Benennung geht, nämlich die Bezeichnung von Personengruppen, d. h. von Menschenkategorien.

Beispiele hierfür sind etwa die „Neger“ oder die „Zigeuner“. Der Zweck der Umbenennung dieser Personenkategorien in „Schwarze“ oder „Sinti und Roma“ ist naheliegend: Da sich die alten Bezeichnungen auf diskriminierte Personengruppen beziehen und zugleich Bestandteil dieser Diskriminierung sind, weil sie über zahlreiche negative Konnotationen verfügen, ist die Umbenennung ein Beitrag, ja vielleicht sogar Voraussetzung der Verminderung und letztlich Abschaffung von Diskriminierung.

Leider funktioniert dies jedoch nicht, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen füllen sich die neuen Begriffe, solange sich an den gesellschaftlichen Funktionen von Diskriminierung und Ausgrenzung nichts ändert, sehr schnell wieder mit den alten Bedeutungen, so dass ein neuer Begriff erfunden werden muss. Das US-amerikanische Beispiel zeigt, dass rund alle zehn Jahre ein neuer Begriff für Menschen mit dunkler Hautfarbe eingeführt wird; Steven Pinker nannte dieses Phänomen eine Euphemismus-Tretmühle.

Zum anderen haben derartige sprachpolitische Bemühungen die unangenehme Nebenwirkung, dass sie zumeist per (moralischem) Dekret eingeführt werden, ohne sich auf veränderte gesellschaftliche Hierarchien beziehen zu können. Sie erreichen damit in erster Linie, dass sie als verlogen wahrgenommen werden und auch als Versuch, Begriffsfüllungen und damit Denkweisen vorzuschreiben, ohne dass diese argumentativ abgesichert sind und überhaupt eine Anbindung an soziale Realitäten haben.

Nicht zuletzt widersprechen solche Sprachdekrete dem zentralen Merkmal von Alltagssprache, nämlich ihrer Situationsabhängigkeit, Vieldeutigkeit und Unschärfe. So können Personen unterschiedlichster Merkmale „herumzigeunern“, kann Bob Dylan im Titel eines Buchs als „gypsy troubadour“ bezeichnet werden und schmückt sich ein Fleischstück außer mit Paprikastreifen auch mit dem Namen „Zigeunerschnitzel“ – all das, ohne dass daraus etwa die politische Verfolgung von Personen mit einem bestimmten Aussehen resultieren müsste. Und dass sich durch die Umbenennung eines „Mohrenkopfs“ die Häufigkeit, mit der dunkelhäutige Menschen etwa in den USA von Polizisten oder Nachbarn erschossen werden, wesentlich verringern ließe, ist nur ein frommer Wunsch. Insgesamt lässt sich vermuten, dass sich in der aktuellen Sprachpolitik der Benennungsfuror eines germanistischen Unterseminars mit einer handfesten Portion Wortmagie verbündet. Dies lässt gesellschaftliche Ungleichgewichte und Hierarchien völlig unberührt und das tapfere Aufstehen gegen Ungerechtigkeiten ist ein bloße Simulation von politischem Handeln (ein Kronzeuge dieses Sachverhalts ist Ronald Reagan, der in privater Korrespondenz auf die Frage, warum er nichts gegen die Einführung eines Martin-Luther-King-Tages unternommen habe, antwortete, dass es besser sei, den Schwarzen und den Liberalen „symbolisch“ entgegenzukommen, als substantiell etwas zu ändern).

Die Bestrebung des „richtigen“ Bezeichnens verbindet sich zudem auf höchst problematische Weise mit dem Versuch, „exakte“ begriffliche Unterscheidungen zu finden. So wurden aus den „Zigeunern“ nur solange die politisch korrekten „Sinti und Roma“, bis die Kalé, Manouche, Jenischen, Fahrenden usw. usf. anmerkten, dass Sinti und Roma doch ganz anders wären und als Oberbegriff ganz und gar nicht taugten. Am deutlichsten wird dieses Phänomen der tendenziell endlosen Vermehrung von Gruppenbegriffen beim Geschlecht. So wurde zunächst durch den Ersatz des – bezogen auf das Geschlecht – unscharfen Begriffs „Arzt“ durch „Arzt/Ärztin“ eine scheinbar exaktere Beschreibung der entsprechenden Personen vorgenommen. Das funktionierte jedoch nur solange, bis auffiel, dass diese sprachliche Geschlechtsbezeichnung ebenfalls unscharf ist. Wenn man einen naturalistischen Geschlechtsbegriff verwendet, fehlen bei „Arzt/Ärztin“ zumindest die Hermaphroditen, und nähert man sich dieser Bezeichnung aus einer Gender-Perspektive, bleiben noch wesentlich mehr Geschlechter unbenannt. So stellte etwa im Jahre 2014 Facebook 60 Geschlechtsidentitäten zur Auswahl. Der Effekt solcher Begriffsbildung ist eindeutig: Jede Person wird durch seine Merkmalskombinationen – etwa Geschlechtstyp 7 x Hautfarbentyp 4 x Musikgeschmack 16 x … – kommerziell und politisch eindeutig identifizierbar.

Das Ziel dieses Vorgehens wurde von Eric Schmidt (Google) unverblümt so formuliert: „Für jede Suchanfrage nur einen Treffer.“ Wenn Google jeden Nutzer so gut kennt, dass auf eine Suchanfrage nur diejenige Antwort kommt, die der Nutzer auch wirklich haben will, wenn Google (sowie Facebook, Amazon, Versicherungen, viele Staaten usw.) ein Individuum besser kennt als dieses vielleicht sich selbst, dann hat die aktuelle Tendenz zur sprachlichen Differenzierung von Merkmalen ihren inhärenten Zweck erfüllt: die vollständige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen von Unternehmen und staatlicher Macht, d. h. seine Einpassung in ein totalitäres System. Anders herum: Nur in der sprachlichen Unschärfe, in den diffusen Wortbedeutungen und der situationsabhängigen Begriffswahl liegt der Schutz des Einzelnen vor der vollständigen Erfassung und Überwachung und letztlich die sprachliche Grundierung persönlicher Freiheitsrechte. Die immer genauere begriffliche Differenzierung nimmt hingegen dem Einzelnen die Möglichkeit, sich als nicht gemeint zu verstehen; gemeint zu sein, bedeutet daher, zum Objekt derjenigen zu werden, die die begrifflichen Unterscheidungen zu ihrem Zweck verwenden.

Der Weg von Rumpelstilzchen hin zu einer totalitären Vereinnahmung der Individuen ist zwar mit zahlreichen guten Vorsätzen sprachpolitischer Art gepflastert. Zum Erhalt persönlicher Freiheit ist es aber nötig, diesen Weg gerade nicht zu gehen, sondern auf der Unschärfe von Kategorien und Benennungen zu bestehen.

Proporz

In einer Organisation, deren Mitglied ich bin, ist in der Satzung festgeschrieben, dass in den einzelnen Gremien „mindestens ein Drittel der Mitglieder … dem weniger vertretenen Geschlecht angehören (sollen)“. Sowohl die Logik dieser Bestimmung als auch die tatsächlichen Praxis zeigen, dass unter „Geschlecht“ die naturalistische Aufteilung der Menschheit in „Männer“ und „Frauen“ gemeint ist, nicht aber eine Zuordnung zu einem selbst bestimmten Geschlecht, wie es in der Gender-Debatte formuliert wird. Aber auch unabhängig von der genauen Definition von Geschlecht geht es im zitierten Beispiel um einen Proporz (oder auch: eine Quote), d. h. um die Festlegung, welche Menschenkategorien in welchem Umfang in bestimmte Positionen gelangen sollen. Im folgenden möchte ich mich mit dem Warum“ bzw. „Wozu“ beschäftigen, d. h. mit der Frage, welches Gesellschaftsverständnis sich hinter einem Proporz verbirgt.

Als erstes soll ein Argument, das von Proporzgegnern gerne vorgebracht wird, kurz angesprochen und dann abgehakt werden: Menschen sollten in bestimmte Positionen aufgrund von Leistung gelangen, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer unterrepräsentierten Personengruppe. Wenn man sich nun ansieht, wie viele Firmen, die Bankrott anmelden mussten, oder wie viele Staaten, die sich selbst ins politische Abseits stellten, von Männern geführt wurden bzw. werden, gibt es kaum Gründe anzunehmen, dass Frauen es wesentlich schlechter gemacht hätten. Und auch im Fall der – scheinbar – positiven Rolle einer männlichen Führungsperson ist nach allen einschlägigen Untersuchungen nicht davon auszugehen, dass Frauen weniger Erfolg gehabt hätten. Aus der Warte des Ergebnisse – wegen mir: der Leistung – spricht also nichts gegen Quotierungen.

Etwas anders sieht es aus, wenn man sich damit beschäftigt, welche Kategorisierungen von Menschen sich als Proporz materialisieren. Zunächst aber sind zwei Merkmale von Quotierungen hervorzuheben: Zum einen bedeutet eine Quote, dass die dadurch erzeugte Bevorzugung einer Personengruppe notwendigerweise die Benachteiligung einer anderen Gruppe nach sich zieht. Zum anderen geht es bei der Festlegung eines Proporzes immer um sozial hervorgehobene Positionen; für Unterschichtsberufe gibt es hingegen keine Quoten. Aus dieser Perspektive ist es sehr auffällig, dass nicht alle Personengruppen, die etwa in Führungspositionen unterrepräsentiert sind, durch die Einführung einer Quotierung gefördert werden sollen. Anders herum: Die Förderung bzw. Benachteiligung von Personengruppen bezieht sich auf ganz bestimmte Kategorien, deren Bedeutung historisch überaus wandelbar ist.

Ein paar Beispiele sollen dies illustrieren: Im Jahre 1920 war die ungarische Regierung der Meinung, dass zu viele Juden an den Hochschulen studieren, deshalb wurde durch die europaweit ersten antisemitischen Gesetze eine Quotierung von maximal 5 % Juden an den Hochschulen festgesetzt; in den 1930er Jahren wurde dies auf andere soziale Positionen (freie Berufe, Verwaltungen, Handel, Industrie) ausgeweitet. In der DDR war viele Jahre lang der Zugang zu einer akademischen Ausbildung Abkömmlingen aus der „Arbeiterklasse“ vorbehalten, während Kinder „bürgerlicher“ Eltern davon ausgeschlossen waren. Die „affirmative action“ in den USA setzt sich seit den späten 1960er Jahren das Ziel, einzelne ethnische bzw. Rassen- (Schwarze, Hispanics) und Gender-Kategorien (insbesondere Frauen) zu fördern. Im italienischen Südtirol wiederum hängt es von der Muttersprache ab, ob jemand Chancen auf eine bestimmte Stellung im öffentlichen Dienst hat.

So viele Personen-Kategorien bisher auch zu Quoten geronnen sind, noch viel mehr fanden bisher keine entsprechende Berücksichtigung. Es könnte etwa darauf hingewiesen werden, dass kleinere Menschen ebenso schlechtere Karrierechancen haben wie Menschen mit bestimmten Vornamen (Kevin, Schantall) oder mit Migrationshintergrund. Und auch der deutliche Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Herkunftsfamilie und dem eigenen Bildungsweg könnte die Forderung nach Quotierung des Hochschulzugangs nach sich ziehen – was aber nicht geschieht.

Betrachtet man diese Diskrepanzen zwischen realisierten oder zumindest angestrebten Proporzen einerseits und der Vielzahl gesellschaftlicher Ungleichgewichte andererseits, lassen sich aus den aktuellen Quotierungen Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Gesellschaftsbild ziehen. Im wesentlichen sind es wohl zwei Varianten:

Die erste Variante findet sich im Kommentar „Neue Typen braucht der Film“ in der Süddeutschen Zeitung vom 6.3.2018 (S. 4) über die diesjährige Oscar-Verleihung und die dort artikulierte Klage, Frauen hätten kaum eine Chance, Kameraleute zu werden. Daran schließt sich die Forderung der Autorin an, „dass tatsächlich alle darauf hinarbeiten, die Arbeit hinter der Kamera gerechter unter allen Bevölkerungsgruppen zu verteilen.“ Was unter „allen Bevölkerungsgruppen“ zu verstehen ist, wird mit dem Hinweis auf tragende Figuren aktueller Filme erläutert: „eine gehörlose Putzfrau, eine zornige Mutter mittleren Alters, ein junger Schwarzer, dem die Eltern seiner weißen Freundin Angst machen.“ Eine gerechte Welt ist demnach offensichtlich dann erreicht, wenn nicht nur einzelne Personenkategorien nach ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in wichtigen Positionen anzutreffen sind, sondern auch entsprechende Merkmalskombinationen. Das bezieht sich dann nicht nur auf gehörlose Putzfrauen oder mittelalte Mütter, sondern auch auf kleinwüchsige Sachsen oder homosexuelle Schantalls und sogar auf die Kombination all derartiger Kombinationen.

Die zweite Variante ist die heute dominante: Wenn ein Geschlechtsproporz gefordert wird, aber keiner der sozialen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu anderen Merkmalsgruppen, dann heißt das schlicht, dass die Ungleichverteilung sozialer Positionen im Hinblick auf das betreffende Merkmal – hier: Geschlecht – wichtiger ist als bei anderen Kategorien, vielleicht sogar das einzig wichtige gesellschaftliche Unterscheidungskriterium ist. Mit alt-marxistischem Vokabular könnte man auch formulieren, dass – im vorliegenden Fall – die Geschlechtsdifferenz einen gesellschaftlichen Hauptwiderspruch repräsentiert, während andere Differenzen lediglich sekundäre oder abgeleitete Widersprüche abbilden.

Beiden Varianten liegt insgesamt dieselbe Gesellschaftskonzeption zugrunde: Unterschiede sozialer Positionen nach einer oder mehrerer Kategorien sollen mit Mitteln staatlicher Machtausübung reduziert, wenn nicht gar eliminiert werden. Strittig ist dann nur noch, ob zu viele Juden an den Hochschulen sind oder zu wenig Frauen in den Führungsriegen von Politik und Wirtschaft. Das Gesellschaftsbild ist in allen Fällen jedoch identisch.

 

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