Als ich vor einiger Zeit in der örtlichen Stadtbibliothek war, sprach mich eine befreundete Bibliothekarin an und wollte wissen, welche Bücher ich mir ausleihen wolle. Ich zeigte ihr die beiden Krimis, und sie sagte nur mit einer Mischung aus Entrüstung und Mitleid: „Ach, Spannungslektüre!“ Diese Bemerkung ist insofern interessant, als ein Blick auf die Weltliteratur eine solche Reaktion relativieren hilft. Vom Gilgamesch-Epos über die Bibel oder die griechische Sagenwelt bis zu den chinesischen, indischen oder mittelalterlichen Mysterienspielen ist die Literatur eine endlose Abfolge von Mord und Totschlag, die mit Shakespeare oder Goethe beileibe nicht ihr Ende gefunden hat. Allen diesen Werken ist gemeinsam, dass sie zum Kern menschlicher Existenz, der Frage von Leben und Tod, vorstoßen und – unterschiedliche – Antworten geben. Existentielle Fragen zu verhandeln ist also offensichtlich die erste und wichtigste Funktion von Literatur.
Mit der tendenziell abnehmenden Brutalität der Gesellschaftsordnungen verlieren aber auch die Tötungsdelikte ihren zentralen, ja fast ausschließlichen Stellenwert in der Literatur; es eröffnen sich neue Perspektiven auf die Welt. Ein neues Genre steht den herkömmlichen Realitätszugängen noch sehr nahe, bringt aber ein neues Element zu Geltung: Die Rede ist von Detektiv-Geschichten, wie sie sich ausgehend von Edgar Allan Poe entfaltet haben; hier steht nicht mehr die existentielle Frage nach Leben oder Tod im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Lösung eines Rätsels, meist die Ermittlung eines Täters. Andere, ebenfalls im 19. Jh. entstehende Literaturformen wie Abenteuer-, Horror- oder Science-Fiction-Romane weisen ebenfalls oft noch Todesfälle auf, die aber hinter die genretypischen Elemente zurücktreten. Gleich ganz ohne jeden Bezug zu existentiellen Fragen bleiben hingegen Gesellschafts- und Liebesromane, deren Funktion zwischen dem affirmativen Verzicht auf jede Beunruhigung des bürgerlichen Lesers und purem Eskapismus changiert. Die damit einhergehende Belanglosigkeit strahlt aus in eine enervierende Langeweile, die diese Form der Literatur durch – mehr oder weniger gelungene – sprachlichen Mätzchen zu kaschieren versucht. Ebendies dürfte auch den wesentlichen Unterschied zwischen der Heftchen-Literatur mit Heimat- und Liebesromanen und den Produkten etwa einer Juli Zeh ausmachen.
Glücklicherweise gibt es einen Ausweg aus diesen Niederungen schriftstellerischen Schaffens. Und es dürfte kein Zufall sein, dass dem zentrale Erkenntnisse der Logik zugrundeliegen. Diese sind mit Namen wie Bertrand Russell, Kurt Gödel oder Alfred Tarski verbunden, die gezeigt haben, dass – zumindest in Sprachen, die Negation und Reflexivität enthalten – Aussagen existieren, die paradox sind und damit den affirmativen Charakter herkömmlichen Sprechens überwinden.1 Mit einem solchen Rekurs auf Paradoxa gewinnt Literatur jenseits blutrünstiger Mord- und Totschlag-Szenarien wieder Zugang zu existentiellen Fragen und damit wenigstens zu einer Ahnung von Realität.
Es ist wohl die Science-Fiction-Literatur, die sich als erste an solche fundamentalen Fragen gewagt hat. Während in H.G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ noch eine herkömmliche Erzählperspektive vorherrscht, in der die Zeitreise nur die Variante einer Fernreise ist, wird später auch das sog. Großvaterparadoxon thematisiert. Ein sehr bekanntes Beispiel ist der Film „Zurück in die Zukunft“ (hier: Teil I), in dem bei einer Reise in die Vergangenheit das Handeln des Protagonisten die Zukunft, und damit auch die eigene, verändern kann. Paradox ist dabei ein Fall, in dem dieses Handeln die zukünftige Existenz des Handelnden – am Beispiel der Bezeichnung „Großvaterparadoxon“ – dadurch verunmöglicht, dass dieser seinen Großvater tötet. Da er aber in diesem Fall nicht geboren wird, kann er auch seinen Großvater nicht töten, weshalb er doch existiert und in die Vergangenheit reisen kann usw.
Auch anderen Filmen wie etwa „Everything Everywhere All at Once“ gelingt es sehr gut, die Absurditäten, Widersprüche und Paradoxa sozialer Beziehungen darzustellen. Zugleich aber ist es nicht weiter verwunderlich, dass es sich hier wieder um eine Art Science-Fiction handelt; offensichtlich ist es filmisch nicht ohne weiteres möglich, grundlegende Paradoxa ohne Rückgriff auf Zeitsprünge oder Paralleluniversen zu thematisieren.
Dies dürfte nicht zuletzt an einem Problem liegen, das jeder bildlichen Darstellung inhärent ist: sie kann nur etwas darstellen, nicht aber dessen Nicht-Existenz. Konkret: Sprachlich ist eine Aussage wie „Dieses Haus ist nicht gelb“ möglich und in ihrem Gehalt verständlich und sinnhaft, bildlich hingegen ist eine solche Aussage nicht möglich. Damit gelingt es der Sprache über die Verwendung von Negation (und auch Reflexivität), Sachverhalte zu formulieren, die auch paradox sein können und damit ein Begreifen von (paradoxer) Realität ermöglichen. Nicht zuletzt ist der sprachliche Zugang zur Realität dadurch vielfältiger als der bildliche und zugleich viel besser in der Lage, Ungefähres und Unscharfes darzustellen und so ebenfalls einen besseren Blick auf die Realität zu gewinnen.
Dementsprechend ist es etwa auch der Literaturgattung des magischen Realismus immer wieder gelungen, Erkenntnisse zu formulieren, die über die platte Affirmation der bestehenden Verhältnisse hinausgehen.2 Insofern kann den realen Paradoxa moderner Gesellschaften3 gerade nicht mit simplen und simplifizierenden Beschreibungsformen, auch und gerade unter Einsatz moralisierenden Furors, begegnet werden, sondern in erster Linie, ja vielleicht ausschließlich mittels paradoxer Erzählweisen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Paradoxa menschlicher Existenz in den modernen Gesellschaften seit Cervantes’ „Don Quixote“ ein wichtiges Thema gerade der hochwertigsten Literatur sind. Was hingegen nicht hierzu zählt, sind die unzähligen Produkte, in denen die Affirmation bestehender Verhältnisse dominiert und der Unterschied zu einem Eisenbahn-Kursbuch nur in Form von Wortgeklingel existiert. Worauf man also ganz gut verzichten kann, wenn man sich nicht endlos langweilen will.
2 Dann ist es auch völlig plausibel, wenn in Gabriel Garcia Márquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ die Bewohner Macondos durch ihre andauernde Schlaflosigkeit in einen „Zustand der luziden Halluzination (gelangten), … in dem sie nicht nur die Bilder ihrer eigenen Träume (sahen), sondern auch die Bilder, die andere träumten.“
3 Als Beispiel mag hier der Hinweis auf die Situation etwa in Spanien dienen, wo ein männlicher Straftäter einer Strafe wegen „geschlechtsspezifischer Gewalt“ gegen Frauen entgehen kann, wenn er sich rückwirkend als transsexuell (hier: als Frau) definiert.
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