Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 9 von 31)

Rumpelstilzchen

Unter allen Märchen ist wohl „Rumpelstilzchen“ dasjenige mit der größten Anzahl und Vielfalt an unangenehmen bis widerlichen Personen. Zugleich bietet es ein Panoptikum an Verhaltensweisen, die sich zur Zeit als markante Elemente der (nicht nur) deutschen Gesellschaft identifizieren lassen. Lassen wir diese anhand des Märchens Revue passieren.

Den Anfang macht ein Müller, der vor dem König mit seiner Tochter protzt und behauptet, diese könne Stroh zu Gold spinnen. Damit ist sein Auftritt aber auch schon beendet, er taucht im Märchen nicht weiter auf, er hat weder Ahnung noch interessiert er sich dafür, was seine Worte bewirken. Angeberei ohne Bewusstsein der Auswirkungen – so ganz unbekannt ist das nicht, aber fast zu vernachlässigen beim Blick auf die anderen Akteure.

Denn nun kommt der König ins Spiel, der die Müllerstochter zu sich bringen lässt, sie in eine Kammer mit Stroh steckt und auffordert, über Nacht daraus Gold zu spinnen. Falls das nicht gelinge, müsse sie sterben. Das ist das, was man halt so sagt, wenn man die Macht hat. An dieser Stelle könnte das Märchen zu Ende sein, das Mädchen wird am nächsten Morgen wegen erwiesener Unfähigkeit hingerichtet, der Müller schwört sich, nie wieder Unsinn zu reden, und der König wird als Tyrann gestürzt und verbringt seine restliche Zeit im finstersten Kerker seines eigenen Schlosses.

Aber leider geht das Märchen noch weiter: Die Müllerstochter sitzt verzweifelt in der Kammer mit Stroh und weint vor sich hin. Da öffnet sich die Tür, ein Männlein kommt herein, erkundigt sich nach dem Grund für die Tränen und nach erfolgter Auskunft bietet es an, im Tausch für das Halsband des Mädchens das Stroh zu Gold zu spinnen. Der Vertrag wird geschlossen, das Gold hergestellt und alles scheint in Ordnung zu sein. Doch der König ist nun erst recht auf den Geschmack gekommen, führt das Mädchen in eine noch größere Kammer mit Stroh und erneuert seine Forderung, woraufhin in der nächsten Nacht das Männchen wieder an die Arbeit geht und – diesmal gegen Überlassung eines Fingerrings – alles Stroh zu Gold spinnt.

Wenn wir an dieser Stelle innehalten und die Situation durchdenken, stellt sich die Frage, warum sich das Männlein auf diese zweifelhaften Geschäfte einlässt. Denn wenn es Stroh zu Gold spinnen kann, dann hätte es mit ein bisschen Stroh schnell die finanzielle Möglichkeit, sich genügend Halsbänder oder Ringe zu kaufen, und müsste nicht die ganze Nacht hindurch die Arbeit für ein heulendes Mädchen machen. Offensichtlich hat das Männlein nicht die geringste Ahnung davon, wie die Gesellschaft, in der er auftaucht, funktioniert: mit Angeberei (Müller), Morddrohungen (König) und der Unfähigkeit, Problemlösungen zu suchen oder gar zu finden (Müllerstochter).

Diese Geschehnisse sind aber nur das Vorspiel zum Kern des Märchens. Denn der König will natürlich noch einen dritten Raum voll Stroh in Gold umgewandelt haben, verspricht nun aber, trotz der Standesunterschiede, jedoch im vollen Bewusstsein der Reichtumsproduktion durch das Mädchen, diesem die Ehe, sollte der Auftrag erfolgreich bewältigt werden. Und es passiert, was passieren muss: Das Männlein erscheint und möchte wieder für seine Arbeit bezahlt werden. Da das Mädchen nichts mehr besitzt, fordert das Männlein als Kompensation das erste Kind, das die Müllerstochter nach der Eheschließung gebären sollte. Dem stimmt das Mädchen zu, dies in der Hoffnung, dass der Vertrag vielleicht doch nicht erfüllt werden muss. Mit dieser Szene kippt das Märchen. Das Männlein ist nun keine Figur mehr, die ständig ein schlechtes Geschäft macht, sondern schlägt einen Vertrag vor, der nach heutigen Maßstäben als sittenwidrig und damit ungültig zu bezeichnen wäre; es stellt sich damit ins moralische Abseits und sinkt auf dasselbe ethische Level wie die anderen Personen im Märchen. Gleichzeitig erhebt sich das Mädchen erstmals aus seiner völligen Hilflosigkeit, indem es die Folgen seiner Entscheidung auf die ferne Zukunft verschiebt und die Verdrängung der Konsequenzen zur Maxime macht – wiederum eine heute nicht ganz unbekannte Verhaltensweise.

Doch wieder ändert sich alles: Als nach einem Jahr tatsächlich ein Kind geboren wird, kommt das Männlein und fordert die Vertragserfüllung. Auch als die Königin stattdessen alle Reichtümer des Königreichs als Ersatz anbietet, will es sich nicht darauf einlassen – was insofern nur konsequent ist, da es ja durch die Fähigkeit zum Erzeugen von Gold mit den angebotenen Preziosen nicht viel anzufangen weiß. Die Königin ändert daraufhin ihre Taktik und tut das, was schon bisher ihr markantestes Charaktermerkmal war: sie beginnt zu weinen. Und das Männlein lässt sich tatsächlich erweichen und bietet der Königin an, auf das Kind zu verzichten, wenn sie innerhalb von drei Tagen seinen Namen herausfindet.

Damit wendet sich das Märchen zum letzten Mal und bietet in seinem absurden Plot einen zutiefst negativen, weil realistischen Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Denn was macht die Königin? Sie lässt nicht etwa das Männlein einsperren oder aus dem Schloss werfen (wohl im Bewusstsein, dass dann das gesamte gesponnene Gold wieder zu Stroh würde; so wichtig ist ihr das Kind dann auch nicht), sie sucht auch kein Ersatzkind oder überlegt sich irgendeinen anderen Ausweg, sondern sie sendet ihre Dienstboten aus, um den Namen des Männleins in Erfahrung zu bringen. Und tatsächlich gelingt es einem Ausgesandten, das Männlein dabei zu beobachten, wie es in großer Vorfreude, dass die Königin seinen Namen nie erraten wird, um ein Feuer tanzt und dabei seinen Namen ausspricht. Kaum in Kenntnis dieses Namens, lässt die Königin am nächsten Tag das Männlein noch ein bisschen zappeln, indem sie falsche Namen anführt, um schließlich doch mit dem richtigen herauszurücken: Rumpelstilzchen. Und aus dem Männlein bricht nur noch der Satz „Das hat dir der Teufel gesagt“ heraus, dann entleibt es sich auf brutalste Weise selbst.

Was ist aber daran so realistisch? Sehen wir uns dazu die Struktur des Märchens und die Rollen der Personen an. Zunächst einmal fällt auf, dass das gesamte Märchen, auch wenn andere Personen beobachtet werden, aus der Sicht der Müllerstochter/Königin erzählt wird. Der Vater und der König machen etwas, aber das wird von der Müllerstochter nicht hinterfragt; es ist einfach so, es sind unveränderliche Gegebenheiten. Die einzige Person hingegen, die tatsächlich etwas hervorbringt, das Rumpelstilzchen, wird in einem Crescendo von Forderungen als Bösewicht aufgebaut, was unzweifelhaft die Sicht der Müllerstochter/Königin wie auch des Märchenerzählers selbst ist. Er stellt sich damit auf ihre Seite, ist also Partei.

Aus dieser Perspektive ist es nicht mehr schwer, die einzelnen Rollen der beteiligten Personen zu identifizieren. Da ist der Vater, der seiner Tochter Fähigkeiten zuschreibt, über die sie überhaupt nicht verfügt. Da ist der brutale Herrscher, der sich die Produkte anderer Menschen, ja sich diese selbst (via Ehe) aneignet, ohne dass das irgendwelcher Kommentierung bedarf. Und da ist das Mädchen, das nur zwei Qualitäten hat: es kann weinen und es kann andere für sich arbeiten lassen.

Die einzige Figur des Märchens, die tatsächlich etwas schafft, ist Rumpelstilzchen. Ihm werden aber die Resultate seiner Arbeit durch die Gabe einfachster Schmuckgegenstände abgeschwatzt, und in dem Moment, da er durch die Forderung nach dem Kind der Königin auch eine verwandtschaftliche, und das heißt: tatsächliche Gleichstellung mit ihr erreichen könnte, wird er zum Unmenschen. Fasst man das Geschehen metaphorisch, so sieht man in der Müllerstochter ein typisches Aufsteigerverhalten, das die Brutalität der Herrschenden als gegeben hinnimmt, aber in der Ausbeutung der produktiven Bevölkerungsschichten zu kompensieren weiß. Insofern ist der Schluss des Märchens geradezu eine Vorwegnahme heutiger Vorgänge, wenn bildungsbürgerliche Schichten die Wahl richtiger Bezeichnungen („Rumpelstilzchen“) als Lösung gesellschaftlicher Probleme propagieren, aber doch nur ihre Position im Hinterteil der herrschenden Verhältnisse auf Kosten der weniger privilegierten Menschen erhalten wollen.

Insofern ist auch dem Rumpelstilzchen zu widersprechen, wenn es davon ausgeht, dass die Lösung bildungsbürgerlicher Statusprobleme diesen vom Teufel eingegeben wurde. Es ist ihnen ganz von alleine eingefallen. Und wenn nicht, dann haben sie einfach das Märchen von Rumpelstilzchen gelesen.

Dimensionen

Wenn man nicht auf Science-Fiction-Autoren und theoretische Physiker hört, besteht unsere Lebenswelt aus vier Dimensionen: Länge, Breite, Höhe und Zeit. Mit diesen vier Dimensionen kann jedes Objekt außerhalb der Quantenphysik eindeutig lokalisiert werden. Auch wenn das banal erscheint, hat es doch weitreichende Konsequenzen. Im folgenden soll aber nur ein Aspekt betrachtet werden, nämlich die Bedeutung der Zeit.

Eines der grundlegenden Prinzipien der klassischen Physik lautet actio = reactio und ist als das dritte Newton’sche Gesetz bekannt. Man kann es manchmal im Physikunterricht erleben, wenn der Lehrer zwei Schüler auf jeweils einem Rollbrett einander gegenüberstellt und einen der beiden Schüler auffordert, den anderen wegzuschieben, was dann dazu führt, dass sich der Schiebende in die Gegenrichtung bewegt – ein Effekt, der im selben Umfang auftritt, wenn der andere Schüler zu schieben beginnt. Physikalisch macht es also keinen Unterschied, von welchem Objekt die Kraft auf ein anderes ausgeübt wird; dieselbe Kraft wirkt auf dieses Objekt zurück. Insofern ist der Scherz, dass dann, wenn jemand gegen einen Baum gefahren ist, gesagt wird, ihm sei dieser Baum in den Weg gesprungen, insofern eine realistische Darstellung, als es physikalisch zu demselben Ergebnis geführt hat.

Diese simple Gleichstellung von Kraft und Gegenkraft verliert ihre Eindeutigkeit, wenn die Dimension der Zeit hinzugefügt wird. Tatsächlich ereignen sich die Auswirkungen einer Handlung nie mit dieser gleichzeitig, sondern immer mit einer – manchmal nur minimalen – Verzögerung. Ein Beispiel ist etwa das in manchen Weltgegenden übliche Abfeuern von Gewehren bei Trauer- oder Freudenkundgebungen. Wird ein Schuss senkrecht in die Luft abgefeuert, kann es passieren, dass die Kugel den Schützen bei der Rückkehr zur Erde unsanft daran erinnert, dass Kräfte nicht im nirgendwo verschwinden, sondern auch eine Wirkung haben können – hier: den Schützen verletzen. Zugleich aber kann der Faktor Zeit dazu führen, dass der Schütze seinen Platz bei der Rückkehr der Kugel bereits verlassen hat und diese nun eine andere Person trifft. Hier zeigt sich dann auch ein zweiter Aspekt von Zeit: Während im Beispiel der Schiebenden auf den Rollbrettern völlig unerheblich ist, wer das Schieben unternimmt, es also keine Bevorzugung einer bestimmten Richtung der Druckausübung gibt, läuft die Zeit immer nur in eine Richtung: von früher nach später.

Es gibt jedoch eine Möglichkeit, die Richtung des Zeitpfeils zu überlisten; diese Möglichkeit ist das Wissen um die Auswirkungen des Handelns. Entsprechend der eigenen Ziele, d. h. dessen, was als zukünftiges Resultat des Handelns gewünscht ist, kann gehandelt werden und damit die Zukunft zum Entscheidungsgrund für das Handeln werden, mithin zugleich Vergangenheit (= Entscheidung), Gegenwart (= Handeln) und Zukunft (= Resultat) sein.

Bereits Tiere verfügen über solch ein Wissen, wenn sie etwa Methoden einüben, um besser Beute zu machen. Auch Kinder lernen recht schnell, die Effekte bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und diese Erkenntnis dann zielgerichtet einzusetzen. Damit geht aber einher, dass die Zeit auch einem Qualitätswandel unterliegt. Dies zeigt sich darin, dass je größer die Zeiträume sind, die zwischen Handeln und Resultaten liege, desto stärker sinkt die Bereitschaft, die Zukunft in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen. Gerade wenn Handlungseffekte nicht mehr persönlich erlebt werden können, bedarf es neben dem bloßen Wissen um die Zukunft auch der Bereitschaft, dieses Wissen praktisch umzusetzen. Das nennt man dann Verantwortung – eine Eigenschaft, die nicht nur erlernt, sondern üblicherweise auch gegen diejenigen durchgesetzt werden muss, die ihren kurzfristigen Nutzen für wichtiger halten als den langfristigen Schaden der anderen.

Und dies kann dann Dimensionen erreichen, die weit über die bekannten vier hinausreichen.

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