Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 3 von 31)

Ökonomie des Protests

Blickt man auf verschiedene öffentliche Proteste sowie deren Akteure und Zielsetzungen, zeigen sich eklatante Unterschiede etwa zwischen protestierenden Landwirten und den sog. Klimaklebern. Letztere werden immer wieder scharf kritisiert, bei Aktionen von Autofahrern tätlich angegriffen und mittlerweile als kriminelle Vereinigung verfolgt. Die Landwirte hingegen stoßen mit ihren Blockaden auf häufiges Wohlwollen, verständnisvolle Kommentare und erfahren eine umstandslose Akzeptanz ihrer Forderungen durch die Politik. Als Grund für diese Diskrepanz werden immer wieder vermutete Eigenschaften der Akteure genannt, hier die faule Jugend, die schon freitags nicht zur Schule gehen wollte und jetzt auch noch Autofahrer beim Erreichen ihrer Fahrziele stört, da die hart arbeitende Landbevölkerung, die von einer abgehobenen Bürokratie durch unsinnige Vorschriften etwa im Bereich des Naturschutzes an der Sicherung eines auskömmlichen Einkommens gehindert wird. Nicht zuletzt verfügen Landwirte über tonnenschwere Agrarpanzer, die ungezogene Jugend aber nur über recht zerbrechliche Körper, so dass es naheliegt, sich mit den Stärkeren zu solidarisieren.

So offensichtlich diese und andere Rahmenbedingungen für die Akzeptanz von Protest wichtig sind, so sehr bleibt dies auf der Ebene des unmittelbar Sicht- und Erfahrbaren. Ein vertieftes Verständnis verspricht hingegen – auch und gerade ohne Blick auf die konkreten Inhalte der Forderungen – ein Rückgriff auf etwas, das man die Ökonomie des Protests nennen könnte. Was ist darunter zu verstehen?

Es handelt sich um eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Jeder Protest hat ein Ziel, das – wenn erreicht – einen Nutzen verspricht. Gleichzeitig weist ein Protest auch Kosten auf, etwa in Form des Aufwands, der betrieben werden muss, aber auch und insbesondere durch eventuelle negative Reaktionen derjenigen, die vom Protest betroffen sind. Auf der Seite der Betroffenen (hier etwa: durch Straßenblockaden behinderte Autofahrer) ist eine ähnliche Kalkulation anzustellen: Was gewinnt man, wenn man dem Protest nicht nachgibt, und welche Kosten treten auf, wenn man das doch tut?

Diese Gegenüberstellung führt zu einem eindeutigen Resultat: Je kleiner eine Gruppe von Nutznießern ist und je größer die Gruppe der Betroffenen (z. B. die gesamte Bevölkerung), auf desto mehr Betroffene verteilen sich die Kosten, wenn einem Protest nachgegeben wird. Die erste Gruppe hat also viel zu gewinnen und die zweite nicht viel zu verlieren. Damit sind die Chancen, dass der Protest erfolgreich ist, relativ groß. Im umgekehrten Fall sieht es ganz anders aus. Denn wenn der Nutzen, der mit einem Protest erreicht werden soll, sich auf viele verteilt, wobei unklar bleibt, wie groß er ist, die Kosten des Protests selbst, aber auch seiner Folgen hingegen sich auf eine deutlich kleinere Gruppe konzentrieren, sinken die Erfolgschancen rapide.

Es ist offensichtlich, dass die Landwirte ein Musterbeispiel der ersten Variante sind, während die Klimakleber der zweiten zuzurechnen sind. Selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, dass das, was hier als Nutzen und Kosten bezeichnet wurde, nur dann exakt zu benennen ist, wenn man sich auch dafür interessiert, diese Form der Ökonomie genauer zu analysieren. Genau aus diesem Grund benennt die öffentliche Debatte über die Landwirte nur deren ökonomische Vorteile, aber nie die Kosten, die aus dem diensteifrigen Nachgeben gegenüber ihren Forderungen entstehen; und bei den Klimaklebern wird der wirtschaftliche Nutzen, der aus ihren Zielen erwächst, nur randlich oder gleich gar nicht erwähnt wird, während die Kosten (etwa: das verspätete Ankommen von Autofahrern am Arbeitsplatz) immer prominent thematisiert werden.

Ein Schelm, wer dabei Absicht unterstellt.

Zivilisation

Für all die Pöbeleien, Beschimpfungen, Drohungen und Herabwürdigungen insbesondere in den sog. sozialen Medien hat sich vor allem ein Begriff etabliert: Hass, oft auch in zusammengesetzten Wörtern wie Hass-Postings oder Hassmails.

Dieser Begriff führte bei mir zu einem diffusen Unbehagen, das ich zunächst darauf zurückführte, dass unklar ist, ob damit eine zusammenfassende Beschreibung der Inhalte entsprechender Äußerungen oder aber eine Begründung dafür gemeint ist. Liest man etwa den Wikipedia-Artikel dazu (https://de.wikipedia.org/wiki/Hass), wird diese Unklarheit augenfällig. Im ersten Satz wird Hass noch als „intensives Gefühl der Abneigung und Feindseligkeit“ definiert, weiter unten werden dann aber handlungsbezogene Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit oder Antisemitismus mit Hass gleichgesetzt. Damit wird der Begriff jedoch einerseits zirkulär – ich äußere mich fremdenfeindlich, weil ich fremdenfeindlich bin – und blendet andererseits abweichende Erklärungen völlig aus. So ist es ohne weiteres vorstellbar, dass jemand Hasskommentare zum bloßen Vergnügen verfasst, können so z. B. unerwünschte Teilnehmer aus Online-Foren vertrieben werden. Und auch rein kommerzielle Erwägungen – wie erhalte ich möglichst viele Leser, denen bezahlte Werbung präsentiert werden kann – vermögen Online-Hass zu erklären.

Der Rückgriff auf Sprachlogik kann nun zwar dazu beitragen, ein mulmiges Gefühl angesichts einer Begriffsverwendung besser zu interpretieren, er hilft jedoch wenig, wenn es darum gehen soll, Vorgänge mittels eines Begriffs besser zu verstehen. In einer solchen Situation kann der Griff zu einem Klassiker nützlich sein. Die Rede ist hier von einem Standardwerk der Soziologie: „Über den Prozeß der Zivilisation“ von Norbert Elias (1939).

In seinem monumentalen Werk beschreibt und interpretiert Elias die Geschichte der europäischen Gesellschaften seit dem Mittelalter als Prozess der zunehmenden Selbstkontrolle und Rücksichtnahme auf andere. Dies artikuliert sich in zahlreichen Lebensbereichen, vom gemeinschaftlichen Essen (Benutzung von Besteck) über Formen der Hygiene (Benutzung von Toiletten) bis zum Alltagsverhalten (Verschlucken statt Ausspucken von Spucke, Verzicht auf körperliche Gewalt als Form der Konfliktaustragung, kontrollierte Formen der Sexualität) usw. Die neuen Verhaltensformen werden internalisiert, entweder über Scham (eigenes Verhalten) oder über Ekel (Verhalten der anderen); damit muss Zivilisiertheit nicht mehr permanent kontrolliert werden, sondern geht als Selbstverständlichkeit in das Verhaltensrepertoire der einzelnen Menschen ein.

Als Ursache dieser tiefgreifenden Verhaltensänderungen identifiziert Elias die – grob zusammengefasst – zunehmende Arbeitsteilung und daraus folgend den steigenden Regulierungs- und Kooperationsbedarf. Das Verhalten eines Bauern einer mittelalterlichen Streusiedlung interessiert niemanden; erst wenn er am Markttag in die Stadt fährt, wird es von Bedeutung, weil er z. B. bei Uneinigkeit über den Preis seiner Produkte gerne die Fäuste sprechen lässt. In einer modernen Gesellschaft sind die Ansprüche an Zivilisation noch wesentlich höher; bei einer Vorstandssitzung eines DAX-Konzerns auf den Boden zu spucken und zu rotzen, stößt nicht durchgängig auf ungebremste Begeisterung.

An dieser Stelle könnte man die berechtigte Frage stellen, ob das Kooperationsproblem nicht auch umgekehrt gelöst werden kann, also indem ein – aus dieser Sicht – unzivilisiertes Verhalten einfach von allen ausgeübt wird und damit nicht mehr stört. Ein Blick auf das Rauchverbot in Gaststätten kann diese Frage klären helfen. Ohne Rauchverbot – so die damalige Argumentation der Gegner – steht es den Rauchern frei, zu rauchen, und den Nicht-Rauchern, nicht zu rauchen. Jeder hat also seine Freiheit. Eine solche Argumentation missachtet jedoch die darin liegende Hierarchisierung. Denn wenn ein Raucher raucht, stört und gefährdet er den Nichtraucher; der umgekehrte Fall existiert jedoch nicht. Das Rauchverbot in Gaststätten bildet damit einen Zwang zur Rücksichtnahme und ist demnach dem Prozess der Zivilisation zuzuordnen.

All das bedeutet nicht, dass der Prozess der Zivilisation nur eine (eindeutige) Richtung kennt. Manche neuen Verhaltensformen werden auch wieder aufgegeben und durch wieder andere ersetzt (etwa bei der Steuerung innerbetrieblicher Kooperation, wenn strikte Hierarchien durch die Selbstregulierung von Arbeitseinheiten abgelöst werden). Aber es kann auch zu markanten Rückschritten beim Maß der gegenseitige Rücksichtnahme kommen; Elias selbst führt als Beispiel für eine solche Entwicklung das Dritte Reich an.

Und damit können wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurückkehren. Die Absender der „Hass“-Botschaften sind weit überwiegend einsame und gesellschaftlich kaum eingebundene Menschen; durch die sozialen Medien sind sie nun von der Last befreit, auf andere Rücksicht nehmen zu müssen, um überhaupt soziale Beziehungen zu haben. Sie erhalten so aber nicht nur die Möglichkeit, Zivilisation abzulehnen, sondern können sich auch zahlreiche Belohnungen für unzivilisiertes Verhalten sichern: persönliche Befriedigung, Zusprüche Gleichgesinnter und Geld.

Das bedeutet abschließend, dass es sich bei den beobachteten Phänomenen nicht um „Hass“ handelt, sondern um das Gegenteil von „Zivilisation“. Und das nennt sich „Barbarei“.

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