Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 26 von 31)

Anarchie und Systemtheorie

Der Münchener Soziologieprofessor und Systemtheoretiker Armin Nassehi (A.N.) hat am 13.7.2017 in ZEIT-Online (http://www.zeit.de/kultur/2017-07/g20-linke-gewalt-kapitalismuskritik-globalisierung-essay) einen Artikel mit dem Titel „Eine Linke braucht es nicht mehr“ publiziert, in dem er zunächst auf die dem sog. Schwarzen Block zugeschriebenen Krawalle während des Hamburg G20-Gipfels eingeht und dann das Politikmodell „der“ Linken kritisiert. Die Ergebnisse seiner Ausführungen können folgendermaßen zusammengefasst werden: Er findet die Krawalle ganz offensichtlich nicht gut, und er kritisiert das „linke“ Politikmodell, das nicht praktikabel sei, weil dessen (universalistische) Zielvorstellungen zwar – im Gegensatz zu den (partikularistischen) Zielen der „Rechten“ – prinzipiell begrüßenswert seien, aber durch die angestrebte Umsetzung über staatliche Eingriffe der Komplexität der modernen Gesellschaft nicht gerecht würden und daher nicht umsetzbar und letztlich zum Scheitern verurteilt seien.

Man könnte dieser Position nun recht einfach entgegenhalten, dass der G20-Gipfel in Hamburg all diejenigen Akteure versammelte, die – am Beispiel Syriens – ganz planvoll und sehr unkomplex das Abschlachten der Bevölkerung direkt (durch militärische Aktion) oder indirekt (durch Waffenlieferungen) betreiben oder zumindest dafür sorgen, dass die davor Flüchtenden die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer antreten müssen (aufgrund der Schließung der Balkanroute) oder in Folterlagern etwa in Libyen festgehalten werden, und dass daher ein planvolles Vorgehen gegen diese Akteure nicht nur gerechtfertigt, sondern auch durchaus sinnvoll ist. Soweit die kurze Alternativerzählung zum G20-Gipfel, dessen in der Öffentlichkeit verbreitete Selbstbeschreibung in etwa so lautete: Es treffen sich die Herrscher dieser Welt (systemtheoretisch formuliert: die stärksten Organisationen des politischen Systems der Weltgesellschaft), um Probleme zu lösen, die sie nicht selbst verursacht haben.

Da A.N. jedoch den G20-Gipfel nur als Anlass verwendet, um dem „linken“ Politikmodell die als solche verstandenen Merkmale moderner Gesellschaften gegenüberzustellen, soll im weiteren ebenfalls versucht werden, eine eher grundsätzliche Position zu entwickeln. Um es vorwegzunehmen: Es muss doch verwundern, dass der „Schwarze Block“ als Beispiel für – verfehlte – „linke“ Politik angeführt wird. Dies bezieht sich nicht auf die reichlich albernen Versuche „linker“ Politiker, das Verursachen von Sachbeschädigungen als „nicht links“ zu verurteilen – albern deshalb, weil Politik als Kampf um und Einsatz von Macht und damit auch von Gewalt (von der Erzwingungshaft für Schuldner bis zu kriegerischen Mitteln) definiert ist, auch und gerade aus systemtheoretischer Perspektive. Die Verwunderung über die Gleichsetzung von „linker“ Politik und dem „Schwarzen Block“ speist sich daher aus einer anderen Quelle, nämlich aus der Betrachtung grundsätzlicher Merkmale der Proteste gegen den G20-Gipfel. Wer etwa die Großdemonstration am 8.7.2017 beobachtet hat, konnte tatsächlich Elemente der von A.N. kritisierten „linken“ Politik feststellen. Im Block der Partei „Die Linke“ wurden die bekannten politischen Forderungen dieser Partei vorgetragen, die Umweltschützer traten für besseren Umweltschutz ein und die Kurden trugen überlebensgroße Porträts des „Kurdenführers“ Öcalan.

Nichts dergleichen im Schwarzen Block. Dort wurden im wesentlichen nur zwei Parolen artikuliert: „A! Anti! Anticapitalista!“ und „Siamo tutti antifascisti!“ Beiden Parolen kann auch bei extremem hermeneutischen Wohlwollen nicht attestiert werden, einer komplexen Gesellschaftsstruktur ein simples Politikmodell überstülpen zu wollen. Die aus dem italienischen Anarchismus stammenden Parolen weisen in ihrer Sprachlosigkeit vielmehr darauf hin, dass zumindest in einem Teil der „Linken“ die Botschaft des Systemtheoretikers von der Komplexität und Nicht-Planbarkeit der Gesellschaft verankert ist. Die fast ausschließliche Negativität des politischen Engagements des „Schwarzen Blocks“ bzw. der „Autonomen“ kann daher als Verwirklichung der systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse verstanden werden.

Aber auch dort, wo es um die praktische, d. h. konkrete Umsetzung politischer Bestrebungen geht, also um den Bereich, in dem die „Autonomen“ bisher Erfolge erziehen konnten (etwa beim Aufbau und der Einrichtung selbstorganisierter Kulturzentren), ist mit der Beschränkung auf lokale Politikziele kaum ein konzeptioneller Unterschied zur systemtheoretischen Praxis festzustellen, ist doch auch letztere auf die Regelung von Prozessen in kleinen Organisationseinheiten (etwa Krankenhäuser) beschränkt. Insofern kann festgehalten werden, dass die Kritik von A.N. an „linker“ Politik auf den „Schwarzen Block“ nicht nur nicht zutrifft, sondern sogar dergestalt umgedreht werden muss, dass dessen – ja: auch gewaltsame – Aktivitäten als konsequente Folgerung aus der systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse verstanden werden müssen. Denn aus der Absage an eine als Gesellschaftsplanung konzipierte „linke“ Politik kann – wenn man nicht der „rechten“ Politik einer mit Mitteln politischer Macht durchgesetzten Verwirklichung von Partikularinteressen zuneigt – nur eine Konsequenz resultieren: der Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht, die diese Partikularinteressen stört und letztlich zerstört. Nichts anderes ist auch das Politikmodell des „Schwarzen Blocks“.

 

Panik-Porno

In der Süddeutschen Zeitung fanden sich am 10./11.10.2015 folgende Zeilen über einen Aspekt der sog. Flüchtlingskrise: „Kürzlich wurden in Mähren elf Musiker aus Benin, die zu einem Volksmusikfestival gekommen waren, verhaftet. Ein ‚besorgter Bürger‘ geriet in Panik, sie könnten illegale Einwanderer sein. Ein anderer war außer sich, als er sah, wie Fremde im Wald einen Bunker bauten. Es waren Waldarbeiter. Und neulich hat eine junge Frau die Polizei alarmiert, weil sie angeblich einen bewaffneten Islamisten gesehen hat. Es war ein Schornsteinfeger.“ (S. 18) In Ungarn kam es zu einer Begegnung von drei Landvermessern und sechs zur Landschaftspflege zwangsverpflichteten Frauen, bei der jede Gruppe die andere für Flüchtlinge hielt, woraufhin die Geodäten sich kopfüber in einem Maisfeld versteckten und die Frauen voller Panik in ihr Dorf zurückradelten und einen Notruf an die Polizei absetzten. Erst diese konnte die Situation klären.

Dies alles ist mit Panik wohl am zutreffendsten beschrieben. Selbstverständlich gibt es angstgesteuertes Verhalten auch auf anderen Gebieten; zahlreiche Menschen fürchten sich vor Erdstrahlen, Außerirdischen, Lebensmitteln, der Technik, dem Strafgericht Gottes usw. Das Besondere an Panik ist, dass in diesem Zustand die Angst so groß ist, dass es – wie es auf Wikipedia feinsinnig umschrieben wird – „zu einer Einschränkung der höheren menschlichen Fähigkeiten kommen“ kann. Es geht also um das Aussetzen des Verstandes.

Panik wird üblicherweise psychologisch erklärt – etwa wenn es in einer dicht gedrängten Menschenmenge zu unkontrolliertem Verhalten kommt (z. B. bei der Love Parade in Duisburg 2010). Dann übernimmt der Körper die Regie über den Kopf, und aus einer stammesgeschichtlich sinnvollen Reaktionsweise wird ein (selbst-)zerstörerisches Verhalten. Zwei andere Punkte sind mir hier jedoch wichtiger.

Da ist zum einen das bewusste oder zumindest bewusst in Kauf genommene Hervorrufen von Panik zum Zweck des eigenen Vorteils. Denn wenn Angstgefühle sich zu einem Umfang auswachsen, bei dem der Verstand ausgeschaltet wird, schlägt die Stunde der Manipulatoren. Zu gewinnen gibt es vielerlei, sei es durch den Verkauf von Esoterika im TV-Shopping, die vor diffusen Gefahren schützen sollen, sei es durch das gleichzeitige Schüren der Angst vor dem Ende des Euro und dem Verkauf von Gold auf der Webseite der AfD.

Und nicht zuletzt geht es um politischen Gewinn, wenn Politiker Panik erzeugen vor Flüchtlingen, die etwa in Ungarn durchgehend als Terroristen und/oder Agenten der „Umvolkung“ bezeichnet werden. Dadurch hat es die dortige Regierung geschafft, ihre Zustimmungsraten wieder auf den Stand zu heben, den sie aufwiesen, bevor es durch die geplante Einführung einer Gebühr für Internetnutzung zu einem rapiden Beliebtheitsschwund kam. Auch die aktuellen Seehofereien in Bayern sind diesem Zweck der Panikmache zuzuordnen. All das sind gut bekannte und dokumentierte Elemente des bewussten Schürens von Panik: die bessere Manipulation der Adressaten durch die Reduktion des Denkvermögens mittels Angsterzeugung.

Noch wichtiger scheint mir ein zweiter Punkt zu sein, der in der Diskussion über Panikverhalten kaum eine Rolle spielt. Wenn man sich die einschlägig bekannten Argumentationen der „besorgten Bürger“ auf Informationsveranstaltungen zur Flüchtlingsfrage zu Gemüte führt, können die Ängste vor den unheimlichen Fremden, ihrer rätselhaften Kultur und der dräuenden Kriminalität kaum mit der Massenpanik in akuten Notsituationen verglichen werden. Denn es bestand und besteht ja genügend Zeit, sich zu informieren und auf diesem Wege auch wieder zur Nutzung rationaler Überlegungen zu gelangen. Offensichtlich wollen das jene Leute aber nicht.

Selbstverständlich kann hinter einem solchen Verhalten eine rassistische und rechtsradikale Grundeinstellung stecken; ich denke aber, dass hier ein anderer Mechanismus wirkt. Der Schlüssel dürfte in der direkten Wirkung von Panik auf den Körper, unter Umgehung des Verstandes, liegen, ist diese Reaktion auf einen Auslöser in ihrer Unmittelbarkeit doch ein wesentlich stärkeres Gefühl als eine bloße Schlussfolgerung aus einer rationalen Überlegung. Diese Stärke des Gefühls teilt sich Panik mit der Pornographie, die ja ebenfalls den (bildlichen oder textlichen) Reiz direkt in körperliche Reaktion überführt. Und ebenso wie Pornographie nicht zu widerlegen ist (da ihr ja keine verstandesmäßige Rezeption zu Grunde liegt), kann auch gegen die panische Angst vor Flüchtlingen kaum argumentativ vorgegangen werden. Das hohe Maß an direkter körperlicher Wirkung verhindert dabei das Einschalten rationaler Verstandestätigkeit, denn nur so ist das Maximum an Gefühlsstärke zu erreichen. Wie in der Pornographie auch nutzt sich jedoch die panische Angst (z. B. vor Flüchtlingen) relativ schnell ab, derselbe Reiz hat nicht mehr dieselbe (starke) Wirkung. Deshalb muss nachgelegt werden: Aus diffuser privater Angst wird öffentliche Hetze wird Brand- und Mordanschlag. Das ist der Panik-Porno.

P.S.: Wer glaubt, durch das „Ernstnehmen der Sorgen“ den Panik-Porno aufhalten zu können, ist deshalb: ein Idiot.

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