Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 23 von 31)

Agatha und die Zwillinge

Von Karl Valentin stammt der Spruch: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Diese Erkenntnis hat die Menschen nie davon abgehalten, die Zukunft vorhersehen zu wollen. Wahrsagen war immer schon ein gutes Geschäft; vor allem in Krisenzeiten will man wissen, was passieren wird. Und wer hat nicht schon manchmal vor sich hin gestöhnt: „Wenn ich das vorher gewusst hätte …“

Zwei aktuelle Bespiele zeigen die Wirkmächtigkeit eines solchen Denkens. So titelte die Bildzeitung am 8.6.2018 anlässlich eines Mordfalls: „Wenn er abgeschoben worden wäre … würde sie noch leben.“ Und das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz erweitert das Spektrum polizeilicher Eingriffsmöglichkeiten über die bisherige „konkrete Gefahr“ hinaus um die „drohende Gefahr“. In beiden Fällen geht es darum, durch eine Art höhere Form des Wahrsagens festzustellen, ob jemand in der Zukunft ein Verbrechen begehen wird, um dieses dann zu verhindern.

Die Grundidee und die Konsequenzen eines solchen Zugangs zur Bekämpfung von Kriminalität wird idealtypisch in Steven Spielbergs Spielfilm „Minority Report“ (2002) dargestellt. In diesem Film und in der ihm zugrundeliegenden Kurzgeschichte von Philip K. Dick geht es um das (fiktive) „Precrime“-Programm der Stadt Washington, in dem die drei Überlebenden eines gentechnischen Experiments – Agatha und die Zwillinge Arthur und Dashiell – Visionen zukünftig sich ereignender Morde haben, woraufhin die Polizei die – potentiellen – Täter kurz vor der Tat festnimmt und in Dauergewahrsam überführt. Das auf die Zukunft bezogene Wissen der drei in einer Nährlösung schwimmenden „Precogs“ führt dazu, dass in den sechs Jahren seit Beginn des Precrime-Programms in Washington scheinbar keine Morde mehr passieren. Es ist sicher nicht übertrieben anzunehmen, dass diese Modell von Verbrechensvorbeugung genau das ist, wovon bayerische Landesregierung und Bildzeitung träumen.

Nun ist nicht bekannt, über welche Mutanten die CSU oder die Bildzeitung verfügen – sicherlich gibt es dort zahlreiche, aber offensichtlich verfügen sie nicht über die Fähigkeit der Precogs; denn im Film findet das Eingreifen immer nur wenige Minuten vor der Tat statt, die „drohende Gefahr“ ist hingegen auf eine eher unkonkrete Zukunft gerichtet. Der Film zeigt darüber hinaus, dass auch im Falle einer tatsächlichen „Pre-Cognition“ ein solches Programm über ein entscheidendes und sehr problematisches Merkmal verfügt: dass es als Instrument der Herrschenden verwendet werden kann, eigene Verbrechen zu vertuschen.

Wenn man die Quintessenz des Films zusammenfassen will, kann sie etwa so lauten: „Wer die Zukunft definiert, beherrscht die Gegenwart.“ Und wer effektiv Ängste zu wecken vermag und zugleich die Lösung der Probleme verspricht, kann mit großer Zustimmung rechnen. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Themen, bei denen über eine Vorhersage der Zukunft Einfluss auf die Gegenwart genommen werden soll. Wenn es etwa um den Klimawandel oder die Sicherheit des deutschen Sozialversicherungssystems (vulgo: Renten) geht, ist offensichtlich, dass es hier auch um Probleme in der Zukunft und das Handeln in der Gegenwart geht; die Reaktion hierauf reicht jedoch bei der aktuellen Politik von Leugnung bis Ignorieren. Während hier aber von Daten und der von jedem nachvollziehbaren Interpretation die Rede ist, also um öffentlich kontrollierte und letztlich demokratisch legitimierte Problemlösungen geht, handelt es sich bei der Verbrechensbekämpfung um das Wirken von Precogs, von Personen, die keine Öffentlichkeit mehr kontrolliert, sondern ihre Wahrsageleistungen direkt aus den unerwünschten Taten ableitet, also Element von Herrschaftstechniken ist.

Im Film wird das Precrime-Programm aufgrund dieses Merkmals beendet – ein Resultat, das nicht zuletzt aus dem Demokratieverständnis des Autors bzw. Regisseurs resultiert. Es ist unbestreitbar, dass dieses nicht mit den Positionen der Precogs von CSU und Bildzeitung übereinstimmt.

Rumpelstilzchen

Namen wird eine fast magische Qualität zugeschrieben. Als es der jungen Königin im Märchen „Rumpelstilzchen“ gelingt, den Namen des Männleins, das ihr das Kind wegnehmen will, herauszufinden, und das Wort „Rumpelstilzchen“ ausspricht, ist die Auswirkung überwältigend. Bei den Gebrüdern Grimm heißt es:

„‚Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt,‘ schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.“

Ein ähnliches Verständnis von Namen finden wir im ersten Harry-Potter-Band, als der Titelheld mit seinem Mentor Professor Dumbledore über den bösen Zauberer der Reihe spricht und ihn – wie alle anderen – als „Du weißt schon wer“ bezeichnet, woraufhin Dumbledore ihn folgendermaßen korrigiert:

„Nenn ihn Voldemort, Harry. Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.“

Diese Art Wortmagie findet sich auch in vielen anderen Quellen, immer mit der Hoffnung bzw. der Furcht verbunden, das Aussprechen eines Namens könne eine Veränderung hin zum Guten oder zum Bösen bewirken.

Was bereits im Hinblick auf Namen, die ja die eindeutige Benennung eines Individuums bezwecken, als recht seltsame Denkweise gelten muss (und daher gut zur fantastischen Literatur passt), ist nachgerade bedenklich, wenn es um eine andere Form von Benennung geht, nämlich die Bezeichnung von Personengruppen, d. h. von Menschenkategorien.

Beispiele hierfür sind etwa die „Neger“ oder die „Zigeuner“. Der Zweck der Umbenennung dieser Personenkategorien in „Schwarze“ oder „Sinti und Roma“ ist naheliegend: Da sich die alten Bezeichnungen auf diskriminierte Personengruppen beziehen und zugleich Bestandteil dieser Diskriminierung sind, weil sie über zahlreiche negative Konnotationen verfügen, ist die Umbenennung ein Beitrag, ja vielleicht sogar Voraussetzung der Verminderung und letztlich Abschaffung von Diskriminierung.

Leider funktioniert dies jedoch nicht, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen füllen sich die neuen Begriffe, solange sich an den gesellschaftlichen Funktionen von Diskriminierung und Ausgrenzung nichts ändert, sehr schnell wieder mit den alten Bedeutungen, so dass ein neuer Begriff erfunden werden muss. Das US-amerikanische Beispiel zeigt, dass rund alle zehn Jahre ein neuer Begriff für Menschen mit dunkler Hautfarbe eingeführt wird; Steven Pinker nannte dieses Phänomen eine Euphemismus-Tretmühle.

Zum anderen haben derartige sprachpolitische Bemühungen die unangenehme Nebenwirkung, dass sie zumeist per (moralischem) Dekret eingeführt werden, ohne sich auf veränderte gesellschaftliche Hierarchien beziehen zu können. Sie erreichen damit in erster Linie, dass sie als verlogen wahrgenommen werden und auch als Versuch, Begriffsfüllungen und damit Denkweisen vorzuschreiben, ohne dass diese argumentativ abgesichert sind und überhaupt eine Anbindung an soziale Realitäten haben.

Nicht zuletzt widersprechen solche Sprachdekrete dem zentralen Merkmal von Alltagssprache, nämlich ihrer Situationsabhängigkeit, Vieldeutigkeit und Unschärfe. So können Personen unterschiedlichster Merkmale „herumzigeunern“, kann Bob Dylan im Titel eines Buchs als „gypsy troubadour“ bezeichnet werden und schmückt sich ein Fleischstück außer mit Paprikastreifen auch mit dem Namen „Zigeunerschnitzel“ – all das, ohne dass daraus etwa die politische Verfolgung von Personen mit einem bestimmten Aussehen resultieren müsste. Und dass sich durch die Umbenennung eines „Mohrenkopfs“ die Häufigkeit, mit der dunkelhäutige Menschen etwa in den USA von Polizisten oder Nachbarn erschossen werden, wesentlich verringern ließe, ist nur ein frommer Wunsch. Insgesamt lässt sich vermuten, dass sich in der aktuellen Sprachpolitik der Benennungsfuror eines germanistischen Unterseminars mit einer handfesten Portion Wortmagie verbündet. Dies lässt gesellschaftliche Ungleichgewichte und Hierarchien völlig unberührt und das tapfere Aufstehen gegen Ungerechtigkeiten ist ein bloße Simulation von politischem Handeln (ein Kronzeuge dieses Sachverhalts ist Ronald Reagan, der in privater Korrespondenz auf die Frage, warum er nichts gegen die Einführung eines Martin-Luther-King-Tages unternommen habe, antwortete, dass es besser sei, den Schwarzen und den Liberalen „symbolisch“ entgegenzukommen, als substantiell etwas zu ändern).

Die Bestrebung des „richtigen“ Bezeichnens verbindet sich zudem auf höchst problematische Weise mit dem Versuch, „exakte“ begriffliche Unterscheidungen zu finden. So wurden aus den „Zigeunern“ nur solange die politisch korrekten „Sinti und Roma“, bis die Kalé, Manouche, Jenischen, Fahrenden usw. usf. anmerkten, dass Sinti und Roma doch ganz anders wären und als Oberbegriff ganz und gar nicht taugten. Am deutlichsten wird dieses Phänomen der tendenziell endlosen Vermehrung von Gruppenbegriffen beim Geschlecht. So wurde zunächst durch den Ersatz des – bezogen auf das Geschlecht – unscharfen Begriffs „Arzt“ durch „Arzt/Ärztin“ eine scheinbar exaktere Beschreibung der entsprechenden Personen vorgenommen. Das funktionierte jedoch nur solange, bis auffiel, dass diese sprachliche Geschlechtsbezeichnung ebenfalls unscharf ist. Wenn man einen naturalistischen Geschlechtsbegriff verwendet, fehlen bei „Arzt/Ärztin“ zumindest die Hermaphroditen, und nähert man sich dieser Bezeichnung aus einer Gender-Perspektive, bleiben noch wesentlich mehr Geschlechter unbenannt. So stellte etwa im Jahre 2014 Facebook 60 Geschlechtsidentitäten zur Auswahl. Der Effekt solcher Begriffsbildung ist eindeutig: Jede Person wird durch seine Merkmalskombinationen – etwa Geschlechtstyp 7 x Hautfarbentyp 4 x Musikgeschmack 16 x … – kommerziell und politisch eindeutig identifizierbar.

Das Ziel dieses Vorgehens wurde von Eric Schmidt (Google) unverblümt so formuliert: „Für jede Suchanfrage nur einen Treffer.“ Wenn Google jeden Nutzer so gut kennt, dass auf eine Suchanfrage nur diejenige Antwort kommt, die der Nutzer auch wirklich haben will, wenn Google (sowie Facebook, Amazon, Versicherungen, viele Staaten usw.) ein Individuum besser kennt als dieses vielleicht sich selbst, dann hat die aktuelle Tendenz zur sprachlichen Differenzierung von Merkmalen ihren inhärenten Zweck erfüllt: die vollständige Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen von Unternehmen und staatlicher Macht, d. h. seine Einpassung in ein totalitäres System. Anders herum: Nur in der sprachlichen Unschärfe, in den diffusen Wortbedeutungen und der situationsabhängigen Begriffswahl liegt der Schutz des Einzelnen vor der vollständigen Erfassung und Überwachung und letztlich die sprachliche Grundierung persönlicher Freiheitsrechte. Die immer genauere begriffliche Differenzierung nimmt hingegen dem Einzelnen die Möglichkeit, sich als nicht gemeint zu verstehen; gemeint zu sein, bedeutet daher, zum Objekt derjenigen zu werden, die die begrifflichen Unterscheidungen zu ihrem Zweck verwenden.

Der Weg von Rumpelstilzchen hin zu einer totalitären Vereinnahmung der Individuen ist zwar mit zahlreichen guten Vorsätzen sprachpolitischer Art gepflastert. Zum Erhalt persönlicher Freiheit ist es aber nötig, diesen Weg gerade nicht zu gehen, sondern auf der Unschärfe von Kategorien und Benennungen zu bestehen.

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