Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 22 von 31)

Sachlich vs. moralisch?

In den aktuellen Debatten z. B. über Flüchtlinge spielt ein Gegensatzpaar eine wichtige Rolle: die Gegenüberstellung von „moralisch“ o. ä. und „sachlich“. Ein Beispiel hierfür ist die Bezeichnung „Gutmenschen“, denen nicht „Schlechtmenschen“ gegenüberstehen, sondern solche, die die Realität so wahrnehmen, wie sie ist, und nicht von naiver Gefühlsduselei infiziert sind. Die Gegenposition besteht hingegen darauf, Werte, Moral und Empathie nicht auf dem Altar der Sachentscheidungen zu opfern, sondern sie zur Grundlage von Handlungen zu machen. Im folgenden möchte ich argumentieren, dass der geschilderte Gegensatz überhaupt nicht existiert, ja vielmehr: dass durch dessen Formulierung zentrale Elemente von politischem Handeln verschleiert werden.

Zunächst soll eine simple Fallkonstruktion, in der eine Einflussnahme auf die gegebene Situation nur sehr eingeschränkt möglich ist, einen grundsätzlichen Aspekt beleuchten. Es geht um schönes Wetter, genauer: die wochenlange Trockenheit in Nord- und Ostdeutschland im Sommer 2018. Wer freut sich nicht, wenn er morgens aus dem Fenster schaut und die Perspektive eines weiteren sonnigen Tages, eventuell mit Sonnenbaden, Strandbesuch und/oder Grillen mit Freunden hat? Nun, das kann z. B. ein hitzeempfindlicher Mensch sein, ein Bauer, dem die Ernte auf dem Feld verdorrt, oder ein Regenschirmverkäufer.

Die meisten Menschen würden sicherlich beim Vergleich des Schwimmbadbesuchers mit dem Landwirt und deren jeweiligen Bewertungen des sonnigen Wetters dem Bauern die sachlichere Position zugestehen, während der Badende eher nur seinem Vergnügen, und das heißt einem sachlich kaum zu rechtfertigenden Gefühl folgt. Dies verändert sich, wenn der Sonnenanbeter auf eine Studie verweist, nach der Sonne und Wärme dazu führen, dass die dadurch erzeugte gute Laune zu einer verbesserten Arbeitsleistung beiträgt, d. h. dass auch er auf sachliche Gründe verweisen kann. Unabhängig davon, welche dieser „sachlichen“ Aspekte höher eingeschätzt werden, kann hier schon das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen „sachlich“ und „gefühlsmäßig/moralisch“ festgestellt werden: Letzteres ist im wesentlichen individueller Natur, während „Sachlichkeit“ auf gesellschaftliche Verhältnisse verweist. Wer etwa Verdienstmöglichkeiten als Bewertungsmaßstab verwendet, ist offensichtlich „sachlicher“ als derjenige, der Wohlfühlaspekte in den Vordergrund rückt.

Das wird noch deutlicher, wenn es um die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst geht. Wenn wir etwa die Rezeption der „Panama Papers“ und der „Paradise Papers“, die von einer internationalen Kooperation von Journalisten ausgewertet wurden, betrachten, ergibt sich ein zwiespältiger Befund. Beides sind Sammlungen von Belegen für weltweite Steuervermeidungsaktivitäten von Mehrfachmillionären aus Wirtschaft, Politik, Sport und anderen Bereichen. Während es in den „Panama Papers“ um in den jeweiligen Ländern zumeist illegale Formen der Steuervermeidung geht, dokumentieren die „Paradise Papers“ vor allem solche Formen des Steuersparens, die zumindest semilegal, aber dennoch anrüchig sind. Die mit großem Aufwand zusammengestellten Berichte sollten – so der aus den Formulierungen der Autoren abgeleitete Zweck der Veröffentlichungen – dazu führen, dass als Reaktion auf die erwartete öffentliche (moralische!) Empörung politische Maßnahmen ergriffen werden, um Steuerhinterziehung effektiver zu bekämpfen. Dazu kam es – von einigen Ausnahmen abgesehen – jedoch nicht. Zum einen verfügten in vielen Ländern die als Steuerhinterzieher identifizierten Personen um ausreichend politische Macht, als dass sie Konsequenzen hätten fürchten müssen. Und zum anderen konnten insbesondere im Hinblick auf die „Paradise Papers“ die meisten Betroffenen darauf hinweisen, dass ihr Handeln (noch) legal gewesen sei. Hier kollidierte also ein „moralisches“ Urteil („Das darf doch nicht sein!“) mit einer sachlichen Feststellung („Aber das war doch alles legal!“). Der Clou dieser Argumentation ist nun, dass dasselbe Handeln seine Qualität fundamental ändert, wenn sich die Rechtslage ändert. Aus der moralischen Entrüstung wird durch ein neues Gesetz der simple Verweis auf eine Gesetzesübertretung, und aus der legalen Steuerersparnis wird ein Delikt, das bei seiner Entdeckung nur noch moralisch gerechtfertigt werden kann („Was sollte ich denn tun, wenn mir der Staat mein mühsam angehäuftes Vermögen wegnehmen will?!“).

Die Rolle der Sachlichkeit in der Politik lässt sich besonders gut anhand zweier Politiker darstellen: D. Trump und A. Merkel. Von D. Trump ist bekannt, dass er die Welt – und v. a. seine Rolle darin – ganz anders sieht als viele externe Beobachter, aber auch etwa Mitarbeiter seiner Ministerien. Wie alle Politiker versucht er, seine Entscheidungen zu begründen, und zwar nicht mit dem Argument, dass diese oder jene Entscheidung ihm einfach gut gefällt, sondern dass er auf die Gegebenheiten richtig reagiere, also eine sachlich adäquate Entscheidung treffe. Diese Art der Argumentation stößt jedoch sehr häufig auf das Problem, dass seine Wirklichkeitsbeschreibungen auf heftigen Widerspruch stoßen, sie sogar explizit als Lügen bezeichnet werden. Unter diesen Umständen ist seine einzig sinnvolle Antwort die, dass diejenigen, die ihm widersprechen, selbst falsche Bilder der Realität produzieren; der übliche Vorwurf lautet „fake news“ an die Presse oder ehemalige Mitarbeiter und deren Berichte.

Der idealtypische Gegenpol zu D. Trump ist A. Merkel, deren Rhetorik den Verdacht einer unsachlichen Argumentation gar nicht erst aufkeimen lassen will. Wenn sie eine Entscheidung als „alternativlos“ bezeichnet, dann signalisiert sie, dass eine sachliche Abwägung mit Notwendigkeit zu einer bestimmten Schlussfolgerung geführt hat und Alternativen nicht sachgerecht seien. Diese Argumentation unterschlägt jedoch zweierlei, nämlich dass erstens jede Entscheidung eine Entscheidung ist, d. h. grundsätzlich auch anders ausfallen könnte, und zweitens eine Entscheidung nicht nur Gründe, sondern auch Folgen hat, die nicht unbedingt mit den Gründen korrespondieren müssen, sondern z. B. ganz andere Personen betreffen können als diejenigen, deren Interessen und Wünsche Grund für die Entscheidung waren. Die Behauptung von Alternativlosigkeit immunisiert daher eine Entscheidung gegen die Kritik an unerwünschten Nebenwirkungen.

Sachlichkeit oder Sachbezogenheit ist letztlich eine Form der (politischen) Rhetorik, die abweichende Positionen delegitimieren soll, indem sie diesen nicht sachgerechte, z. B. alarmistische oder moralische Motive unterstellt, die eine ganz andere Wertigkeit aufweisen als die eigene, quasi neutrale Wirklichkeitswahrnehmung. Zugestandenermaßen ist die Merkel‘sche Rhetorik aus dieser Perspektive deutlich wirksamer als die Trump‘sche.

„Sachlichkeit“ zeigt sich also als unabdingbares Element von Machtausübung, der scheinbar nur mit Empörung, d. h. mit unsachlichen Positionen, begegnet werden kann. Anders herum: Die Frage, wann eine Haltung sachlich oder moralisch-unsachlich ist, hängt von der jeweiligen Position im Machtgefüge ab und reproduziert diese zugleich. Dass eine Person wie Greta Thunberg, die sich gegen die bekannten Folgen der Übernutzung der Atmosphäre als Müllplatz für Abgase wendet, auf so viel Häme stößt, ist aus dieser Sicht nur allzu leicht zu verstehen. Sie argumentiert mit einer sachlichen Kälte, als wäre sie Teil der Machtelite, nicht eine etwas seltsame schwedische Schülerin. Sie übernimmt einfach nicht die qua sozialer Position definierte Rolle der Unterlegenen. Sie spielt das Spiel nicht mit.

Salat

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.

Mit diesen Zeilen beginnt das 1905 veröffentlichte Spottgedicht „Der Gesang der Vegetarier“ des 1878 geborenen anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam. Er kommentiert damit seine Erfahrungen in einer 1900 gegründeten Veganer-, später Vegetariergemeinschaft auf einem Hügel nahe des schweizerischen Ancona. Die „vegetabile Cooperative“ benannte den Hügel in „Monte Verità“ um und dokumentierte damit ihre Absicht, ein „wahrhaftiges“ Leben führen zu wollen; sie stellte sich damit explizit gegen die industrielle Gesellschaft und die darin existierende Lebensformen und war der wohl radikalste Ableger der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Lebensreformbewegung. Auch Mühsam schloss sich für kurze Zeit der Gemeinschaft an.

Das eskapistische Leben auf dem Monte Verità war für eine politisch wache Persönlichkeit wie Mühsam jedoch nur kurze Zeit erträglich; daher verließ er die „Cooperative“ schnell wieder und arbeitete als Schriftsteller und Herausgeber in München, wo er eine wichtige Rolle bei der Gründung der Münchener Räterepublik 1919 einnahm. Nach deren Zerschlagung durch die SPD-geführte Reichswehr und rechtsradikale Freikorps und anschließender fünfjähriger Festungshaft ging er nach Berlin, wo er schriftstellerisch und politisch weiter aktiv war. Im Jahre 1934 wurde er im KZ Oranienburg ermordet.

Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.

Mittlerweile ist der Monte Verità in der Ebene angekommen, d. h. die Ansicht, Veganer- oder Vegetariertum hätte etwas mit einem „wahrhaftigen“ Leben zu tun, hat sich in den letzten Jahren immer weiter verbreitet und zumindest in bildungsbürgerlichen Kreisen den Mainstream erreicht. Dass es sich dabei nicht in erster Linie um eine ganz und gar individuelle Haltung – im Sinne von: Ich mag halt kein Fleisch (es soll ja auch Menschen geben, die Brokkoli oder Kürbis nicht mögen) – handelt, zeigt der fast euphorische Bericht über einen veganen Brunch in einer Münchener Gaststätte in der Süddeutschen Zeitung vom 29.1.2019; die Autorin hebt nicht nur das üppige Büffet hervor, sondern zitiert auch dessen Leitmotiv, das auf einer Tafel zu lesen ist: „Be the change that you want to see in the world“.

(Quelle: www.sueddeutsche.de/muenchen/brunch-vegan-westend-bodhi-fruehstueck-1.4278036)

Dieser Satz kann wohl als Variante des bekannten Kant‘schen Kategorischen Imperativs interpretiert werden, der als ethische Richtschnur für eigenes Handeln das Prinzip benennt, dass dieses dann auch als Richtschnur für das Handeln aller anderen gelten können müsse. Man unterstellt den Restaurantbetreibern wie der Autorin sicherlich nicht zu Unrecht, dass der geforderte „Change“ sich nicht darauf bezieht, dass für alle Menschen üppige Büffets zum Alltag gehören sollten, sondern dass von veganer Ernährung auf globaler Ebene die Rede ist. Aus dieser Sicht müsste die folgende Abbildung auf großen Beifall stoßen.

(Quelle: www.presseportal.de/pm/50116/3606919)

Das haben die Leute jetzt davon – hätten sie nur die Rohstoffe für das Münchener Büffet angebaut! In den Elendsregionen dieser Welt kann der vegane Anspruch auf Weltverbesserung nur als Zynismus verstanden werden. Vielleicht ist das zumindest dumpfe Ahnen eines solchen Zusammenhangs auch der Grund dafür, dass in Veganer-Kreisen die Ernährungsprobleme der sog. Dritten Welt und die Frage, inwieweit dies mit der Vorliebe von Menschen in den reichen Ländern etwa für Avocados oder Sojaprodukte zusammenhängt, auf eher geringes Interesse stößt. Oder wie es Mühsam ausdrückte:

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeissen wir euch eine Walnuss an den Kopf.

 

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