Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 2 von 31)

Öffentliche Verwaltung

Aktuell scheint es kein wichtigeres Thema zu geben als die Überforderung der öffentlichen Verwaltung, insbesondere im Hinblick auf Asylverfahren. Dabei ist sogar von „Kontrollverlust“ (unter anderem: Gauck, Lindner, Spahn, Wagenknecht, Weidel) die Rede.

Die Überforderung der unterschiedlichen Behörden resultiert nach allem, was darüber zu lesen ist, aus einem Dreiklang von Faktoren: der schlechten (personellen wie technischen) Ausstattung, der schlechten Organisation (auch in der Kommunikation zwischen den Behörden) und der mangelnden Arbeitsleistung der Beschäftigten. Selbstverständlich kann die Kombination dieser Faktoren in den einzelnen betrachteten Fällen jeweils ganz unterschiedlich ausfallen; die Zustandsbeschreibung bleibt aber grundsätzlich gültig.

Wenn man mit einem simplen Naturell geschlagen ist, scheint die Lösung dieser Probleme ganz einfach zu sein: die Behörden besser ausstatten, ihre Organisation optimieren und eine leistungssteigernde Mitarbeiterführung implementieren.

Dass diese Lösung aber nur scheinbar naheliegt und eher die grundsätzliche Naivität des Beobachters verrät, ist schon allein daraus abzuleiten, dass solche Vorschläge in den aktuellen politischen Debatten keine Rolle spielen. Dies liegt wohl auch daran, dass das zentrale Ziel der deutschen Politik das Anfüttern einer Milliardärs-Kaste ist; da stören dann Ausgaben für Behördenmitarbeiter nur, insbesondere wenn diese in der Verfolgung von Steuerhinterziehung, Geldwäsche oder organisiertem Betrug aktiv sind. Es geht daher um ganz andere Maßnahmen, denen zugetraut wird, die geschilderten Probleme zu lösen. In letzter Zeit treten vor allem drei Themen bzw. Handlungsvorschläge in den Vordergrund:

1. Offensichtlich ist es ein hervorragendes Instrument zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit von Behörden, exakte Differenzierungen der Bevölkerung vorzuhalten. Während aber auf der Rechten insbesondere die Unterscheidung von Inländern und Ausländern, aber auch von Leistungsträgern und Schmarotzern von zentraler Bedeutung ist, betont die Salonlinke in erster Linie die Differenzierung der Menschen in selbstgewählte Geschlechtskategorien. Beide Richtungen werden demnach als besonders geeignet angesehen, die Arbeitsweise von Behörden zu verbessern. Man müsste sie vielleicht nur noch kombinieren.

2. Eine weitere, hierfür hervorragend geeignete Maßnahme läuft unter dem Titel „Mehr Milei/Trump/Musk wagen“, worunter die einfache Abschaffung von einzelnen Sparten der öffentlichen Verwaltung zu verstehen ist. Tatsächlich kann eine Behörde, wenn sie nicht mehr existiert, auch keine Probleme des Verwaltungshandelns produzieren. Leider ist die Einsicht in die stupende Brillanz dieser Vorschläge nicht so weit verbreitet, dass schnell an ihre Umsetzung zu denken wäre. Das könnte auch daran liegen, dass es etwa für Privatflieger gar nicht so schlecht ist, wenn es eine von allen finanzierte staatliche Flugsicherung gibt; und für die nachmittägliche Ausfahrt des Lamborghini mit 250 km/h sollte eine gut geteerte Autobahn zur Verfügung stehen. Insofern ist der skizzierte Vorschlag bei aller sympathischen Grundsätzlichkeit doch mit gewissen Widersprüchlichkeiten behaftet.

3. Am effektivsten scheint daher die dritte Lösung zu sein: die radikale Begrenzung des Zugangs zu Verwaltungsleistungen. Wenn eine Behörde mit der Bearbeitung der Fälle in ihrem Verantwortungsbereich überlastet ist, kann man einfach dafür sorgen, dass der Zugang zu dieser Behörde erschwert oder gar verunmöglicht wird. Aktuell wird dieser Lösungsweg beim Flüchtlingsthema durchexerziert, das so zu einem Versuchslabor dafür wird, wie man sicherstellt, dass Menschen Behördenleistungen (hier: Bearbeitung von Anträgen) schon physisch nicht mehr in Anspruch nehmen können, weil ihnen einfach der Zugang verwehrt wird.

Dass dies aber nur ein erster Schritt sein kann, wird auch daraus deutlich, dass in den nächsten Jahren mehrere hunderttausend Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Ruhestand gehen und die entsprechenden Stellen nicht mehr besetzt werden können. Dann bietet es sich – zur Vermeidung von Kontrollverlust – konsequenterweise an, Anträge z. B. auf eine Baugenehmigung, Korrektur von Bescheiden oder Anmeldung von Fahrzeugen dadurch zu verhindern, dass die Türen der jeweiligen Behörden geschlossen und verbarrikadiert bleiben. Lediglich die Flugsicherung für Privatflieger, die Autobahnmeistereien an Rennstrecken und die Polizei als Hüterin dieser Verhältnisse werden wohl noch weiter aufrechterhalten bleiben.

Ergänzung aus aktuellem Anlass: Was hier noch als Zukunftsmusik präsentiert wird, ist in den USA mittlerweile Realität.

Literatur und Langeweile

Als ich vor einiger Zeit in der örtlichen Stadtbibliothek war, sprach mich eine befreundete Bibliothekarin an und wollte wissen, welche Bücher ich mir ausleihen wolle. Ich zeigte ihr die beiden Krimis, und sie sagte nur mit einer Mischung aus Entrüstung und Mitleid: „Ach, Spannungslektüre!“ Diese Bemerkung ist insofern interessant, als ein Blick auf die Weltliteratur eine solche Reaktion relativieren hilft. Vom Gilgamesch-Epos über die Bibel oder die griechische Sagenwelt bis zu den chinesischen, indischen oder mittelalterlichen Mysterienspielen ist die Literatur eine endlose Abfolge von Mord und Totschlag, die mit Shakespeare oder Goethe beileibe nicht ihr Ende gefunden hat. Allen diesen Werken ist gemeinsam, dass sie zum Kern menschlicher Existenz, der Frage von Leben und Tod, vorstoßen und – unterschiedliche – Antworten geben. Existentielle Fragen zu verhandeln ist also offensichtlich die erste und wichtigste Funktion von Literatur.

Mit der tendenziell abnehmenden Brutalität der Gesellschaftsordnungen verlieren aber auch die Tötungsdelikte ihren zentralen, ja fast ausschließlichen Stellenwert in der Literatur; es eröffnen sich neue Perspektiven auf die Welt. Ein neues Genre steht den herkömmlichen Realitätszugängen noch sehr nahe, bringt aber ein neues Element zu Geltung: Die Rede ist von Detektiv-Geschichten, wie sie sich ausgehend von Edgar Allan Poe entfaltet haben; hier steht nicht mehr die existentielle Frage nach Leben oder Tod im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Lösung eines Rätsels, meist die Ermittlung eines Täters. Andere, ebenfalls im 19. Jh. entstehende Literaturformen wie Abenteuer-, Horror- oder Science-Fiction-Romane weisen ebenfalls oft noch Todesfälle auf, die aber hinter die genretypischen Elemente zurücktreten. Gleich ganz ohne jeden Bezug zu existentiellen Fragen bleiben hingegen Gesellschafts- und Liebesromane, deren Funktion zwischen dem affirmativen Verzicht auf jede Beunruhigung des bürgerlichen Lesers und purem Eskapismus changiert. Die damit einhergehende Belanglosigkeit strahlt aus in eine enervierende Langeweile, die diese Form der Literatur durch – mehr oder weniger gelungene – sprachlichen Mätzchen zu kaschieren versucht. Ebendies dürfte auch den wesentlichen Unterschied zwischen der Heftchen-Literatur mit Heimat- und Liebesromanen und den Produkten etwa einer Juli Zeh ausmachen.

Glücklicherweise gibt es einen Ausweg aus diesen Niederungen schriftstellerischen Schaffens. Und es dürfte kein Zufall sein, dass dem zentrale Erkenntnisse der Logik zugrundeliegen. Diese sind mit Namen wie Bertrand Russell, Kurt Gödel oder Alfred Tarski verbunden, die gezeigt haben, dass – zumindest in Sprachen, die Negation und Reflexivität enthalten – Aussagen existieren, die paradox sind und damit den affirmativen Charakter herkömmlichen Sprechens überwinden.1 Mit einem solchen Rekurs auf Paradoxa gewinnt Literatur jenseits blutrünstiger Mord- und Totschlag-Szenarien wieder Zugang zu existentiellen Fragen und damit wenigstens zu einer Ahnung von Realität.

Es ist wohl die Science-Fiction-Literatur, die sich als erste an solche fundamentalen Fragen gewagt hat. Während in H.G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ noch eine herkömmliche Erzählperspektive vorherrscht, in der die Zeitreise nur die Variante einer Fernreise ist, wird später auch das sog. Großvaterparadoxon thematisiert. Ein sehr bekanntes Beispiel ist der Film „Zurück in die Zukunft“ (hier: Teil I), in dem bei einer Reise in die Vergangenheit das Handeln des Protagonisten die Zukunft, und damit auch die eigene, verändern kann. Paradox ist dabei ein Fall, in dem dieses Handeln die zukünftige Existenz des Handelnden – am Beispiel der Bezeichnung „Großvaterparadoxon“ – dadurch verunmöglicht, dass dieser seinen Großvater tötet. Da er aber in diesem Fall nicht geboren wird, kann er auch seinen Großvater nicht töten, weshalb er doch existiert und in die Vergangenheit reisen kann usw.

Auch anderen Filmen wie etwa „Everything Everywhere All at Once“ gelingt es sehr gut, die Absurditäten, Widersprüche und Paradoxa sozialer Beziehungen darzustellen. Zugleich aber ist es nicht weiter verwunderlich, dass es sich hier wieder um eine Art Science-Fiction handelt; offensichtlich ist es filmisch nicht ohne weiteres möglich, grundlegende Paradoxa ohne Rückgriff auf Zeitsprünge oder Paralleluniversen zu thematisieren.

Dies dürfte nicht zuletzt an einem Problem liegen, das jeder bildlichen Darstellung inhärent ist: sie kann nur etwas darstellen, nicht aber dessen Nicht-Existenz. Konkret: Sprachlich ist eine Aussage wie „Dieses Haus ist nicht gelb“ möglich und in ihrem Gehalt verständlich und sinnhaft, bildlich hingegen ist eine solche Aussage nicht möglich. Damit gelingt es der Sprache über die Verwendung von Negation (und auch Reflexivität), Sachverhalte zu formulieren, die auch paradox sein können und damit ein Begreifen von (paradoxer) Realität ermöglichen. Nicht zuletzt ist der sprachliche Zugang zur Realität dadurch vielfältiger als der bildliche und zugleich viel besser in der Lage, Ungefähres und Unscharfes darzustellen und so ebenfalls einen besseren Blick auf die Realität zu gewinnen.

Dementsprechend ist es etwa auch der Literaturgattung des magischen Realismus immer wieder gelungen, Erkenntnisse zu formulieren, die über die platte Affirmation der bestehenden Verhältnisse hinausgehen.2 Insofern kann den realen Paradoxa moderner Gesellschaften3 gerade nicht mit simplen und simplifizierenden Beschreibungsformen, auch und gerade unter Einsatz moralisierenden Furors, begegnet werden, sondern in erster Linie, ja vielleicht ausschließlich mittels paradoxer Erzählweisen.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Paradoxa menschlicher Existenz in den modernen Gesellschaften seit Cervantes’ „Don Quixote“ ein wichtiges Thema gerade der hochwertigsten Literatur sind. Was hingegen nicht hierzu zählt, sind die unzähligen Produkte, in denen die Affirmation bestehender Verhältnisse dominiert und der Unterschied zu einem Eisenbahn-Kursbuch nur in Form von Wortgeklingel existiert. Worauf man also ganz gut verzichten kann, wenn man sich nicht endlos langweilen will.

 

1  Zum Einstieg vgl. etwa die Wikipedia-Artikel über das Paradoxon des Epimenides oder über die Antinomie des Barbiers.
2  Dann ist es auch völlig plausibel, wenn in Gabriel Garcia Márquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ die Bewohner Macondos durch ihre andauernde Schlaflosigkeit in einen „Zustand der luziden Halluzination (gelangten), … in dem sie nicht nur die Bilder ihrer eigenen Träume (sahen), sondern auch die Bilder, die andere träumten.“
3  Als Beispiel mag hier der Hinweis auf die Situation etwa in Spanien dienen, wo ein männlicher Straftäter einer Strafe wegen „geschlechtsspezifischer Gewalt“ gegen Frauen entgehen kann, wenn er sich rückwirkend als transsexuell (hier: als Frau) definiert.

 

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