Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 17 von 31)

Straßenverkehrsordnung

Der wohl bekannteste Satz aus dem historischen Gewerbe der Straßenräuberei ist so verständlich wie dem Wortsinn nach falsch: „Geld oder Leben!“. Diesen Satz versteht jeder, nämlich dass es darum geht, das eigene Leben zu retten, indem man dem Räuber seine Habseligkeiten aushändigt. Zugleich ist der Satz falsch, denn die formulierte Alternative gibt es gar nicht. Man möge sich die Antwort eines Postkutschenreisenden vorstellen, der sagt, wenn er schon die Wahl habe, gebe er gern das Leben, da er schon alt sei und mit dem Geld, das er durch die Opferung seines Lebens behalten könne, seiner vielköpfigen Familie ein gutes Leben ermögliche. Die Reaktion des Räubers würde dann – sofern er kommunikativ versiert ist – vor dem Abschießen der Pistole die Information für den Reisenden sein, dass er, der Reisende, doch ein Trottel sei, denn die tatsächliche Alternative laute doch grundsätzlich „Geld oder Leben und Geld“. Das habe er sich doch denken können, doch dazu sei es jetzt leider zu spät.

An diesen Trottel lassen all diejenigen denken, die im Fall der aktuellen Corona-Pandemie damit hausieren gehen, dass doch die Schäden an der Wirtschaft, die aus den Anti-Corona-Maßnahmen resultierten, viel gravierender seien als die Pandemie selbst. Unabhängig davon, als wie unappetitlich man das Aufrechnen von Toten und Pleitiers ansieht, stellt sich die Frage, ob die Alternative „Krankheit eindämmen vs. Wirtschaft schützen“ überhaupt existiert oder nicht ein ähnlicher Fehlschluss wie beim Raubüberfall vorliegt.

Unlängst wurde etwa die „Great Barrington Erklärung“ veröffentlicht, ein Statement von Epidemologen aus dem Umfeld von großindustriell geförderten Einrichtungen von Klimawandelleugnern, in der dafür plädiert wird, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu isolieren, damit die übrigen Menschen ihr gewohntes Leben weiterleben und vor allem die Wirtschaft am Laufen halten können. Die Menschen sollten ihr eigenes Risiko selbst beurteilen und dementsprechend handeln. Jeder Lockdown würde hingegen die Wirtschaft zum Erliegen bringen und zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen etwa durch die Verschiebung von Vorsorgeuntersuchungen hervorrufen; er wird daher strikt abgelehnt.

Viele praktische Probleme ergeben sich aus der skizzierten Position. Zunächst einmal ist unklar, ab welcher Gefährdungsstufe (also z. B. durchschnittliche Sterbewahrscheinlichkeit bei einer Corona-Infektion) bestimmte Bevölkerungsgruppen isoliert werden sollten; gilt dies nur bei Sterbewahrscheinlichkeiten über 50 % oder schon bei 5 %? Auch sind zahlreiche Personen aus Risikogruppen – etwa Übergewichtige, Asthmatiker oder Über-60-jährige – in wirtschaftlich wichtigen Positionen; dies reicht von Vorstandsvorsitzenden über Lehrer bis hin zu Großeltern, die für die berufstätigen Eltern die Kinderaufsicht übernehmen. Nicht zuletzt weisen auch die eher unempfindlichen Altersgruppen immer wieder schwere und sogar tödliche Verläufe auf, und auch Personen mit zunächst geringen Symptomen zeigen in vielen Fällen (geschätzt rund 30 %) lange andauernde Genesungsphasen. All das macht es recht schwierig, die Alternative zwischen „Krankheit eindämmen“ und „Wirtschaft schützen“ sinnvoll zu definieren bzw. entsprechende Abgrenzungen festzulegen.

Hinzu kommt ein Punkt, der in der Debatte meist unberücksichtigt bleibt. Dies liegt daran, dass sich die angeführte Alternative ausschließlich auf staatliches Handeln bezieht. Der Staat schlüpft dabei in die Rolle des Überfall-Opfers, das sich entscheiden muss. Doch ist bereits klar geworden, dass auch ein Verzicht auf den Schutz den Lebens beileibe nicht in der Lage ist, die Wirtschaft vor einer Krise zu bewahren. Dies liegt auch daran, dass es einen weiteren gewichtigen Akteur gibt, der ebenso einflussreich wie der Staat ist: die Bevölkerung.

Ein aktueller Report des Internationalen Währungsfonds (IWF; (https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/WEO/2020/October/English/ch2.ashx?la=en) zeigt, dass die eigenständige Reaktion der Menschen auf die Pandemie, unabhängig von staatlichen Maßnahmen, einen wesentlichen Einfluss auf wirtschaftliche Aktivitäten hatte, indem das Selbstschutzverhalten der Menschen zu einem starken Rückgang von Interaktionen und auch deutlich weniger Nutzung von Dienstleistungen mit persönlichen Kontakten (z. B. Gastronomie) führte. Auch hier wird offensichtlich, wie eng Gesundheitsschutz und wirtschaftliche Prosperität zusammenhängen; ein Entweder-Oder gibt es nicht.

Gerade im Verhältnis von staatlichen Regeln und privater Vorsorge hat es in den letzten Monaten jedoch eine bedenkliche Entwicklung gegeben. In zunehmendem Maße wurde nämlich das persönliche Engagement und das richtige Verhalten der Menschen eingefordert, sie wurden dringend gebeten oder aufgefordert, diese und jene Vorsichtsmaßnahme anzuwenden. Was ist dabei das Problem?

Wenn wir die Pandemie als etwas verstehen, das jeden zum potentiellen Überträger wie Opfer macht und das unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Personen hat, dann lohnt sich ein Vergleich mit dem Straßenverkehr. Auch hier ist ein jeder potentieller Verursacher und Leidtragender von Unfällen mit jeweils nicht vorhersehbaren Auswirkungen. Aber gibt es hier Aufrufe führender Politiker, doch bitte Rücksicht zu nehmen, weniger Unfälle zu bauen („Kontakte zu reduzieren“), auf Autobahnen wenn möglich nicht die Gegenfahrbahn zu benutzen und bittebitte doch keine Autorennen im Innenstadtbereich durchzuführen? Selbstverständlich nicht. Und es treten keine hauptberuflichen Jugendversteher auf, die um Verständnis dafür bitten, dass Autorennen zum Erwachsenwerden gehören und damit als Menschenrecht zählen, wie es in der Pandemie für Parties gilt. Nicht zuletzt weist die StVO keine Dialogbereitschaft mit Personen auf, die Unfälle für nicht existent, für eine Erfindung von Reparaturwerkstätten oder eine Verschwörung von Freiheitsfeinden erklären.

Aber es gibt auch Parallelen. Die Gegner von Tempolimits und damit Befürworter von mehr Unfällen argumentieren mit der dadurch erzeugten höheren Attraktivität der deutschen Automobilwirtschaft; und die Verharmloser von Feinstaub aus Autoauspuffen heben hervor, dass man ja auch an anderen Unfällen sterben könne und Feinstaub aus vielerlei Quellen stamme. Doch die größte Gemeinsamkeit ist wohl die Verteidigung der Trittbrettfahrer, die vor dem Hintergrund, dass die meisten sich an die Regeln halten, die Regelübertretung mit dem Hinweis rechtfertigen, dass die geringe Anzahl an Toten und Verletzten/Kranken ja zeige, dass es gar nicht so schlimm sei, wenn sich manche nicht an die Regeln hielten.

Dieser Verzicht auf die eindeutige Definition von Regeln und deren rigorose Durchsetzung (und nicht bloß das mahnende Heben des Zeigefingers) hat das Trittbrettfahren populär gemacht, hat diejenigen zu nützlichen Idioten gestempelt, die im Frühjahr zum Sinken der Infektionsraten beigetragen haben. Und das macht wiederum den Unterschied aus zwischen dem Straßenverkehr und den aktuell rasant steigenden Infektionszahlen aus. Pandemieverkehrsordnung statt Notmaßnahmen: Das wär‘s gewesen.

Schmetterlinge

Es gibt Sätze, die auf den ersten Blick als klug und tiefschürfend erscheinen, bei näherem Hinsehen aber banal und hohl sind. Und es gibt Sätze, die klug sind, aber auf eine banale Weise interpretiert werden, die ihnen nicht gerecht wird. Ein solcher Satz ist derjenige vom Schmetterling, dessen Flügelschlag in Ganzweitweg einen Wirbelsturm bei uns auslösen kann. Üblicherweise wird dieser Satz als Umformulierung der Platitüde, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können, verstanden, meist mit dem beschwörenden Unterton versehen, dass es darum gehe, eine aktuelle stabile Lage nicht durch unvorsichtiges Handeln zu gefährden, manchmal auch umgekehrt mit der Hoffnung verbunden, eine lähmende Situation durch kleine Aktionen auflösen zu können.

Diese Art der Interpretation des Satzes übersieht seine zentrale Vokabel: „kann“. Denn der Flügelschlag des Schmetterlings kann zwar einen Wirbelsturm auslösen, er kann aber auch gar nichts auslösen oder aber eine Windstille, die statt eines ohne Eingreifen des Schmetterlings entstandenen Tornados auftritt. Es scheint, als gehöre der Satz ebenfalls zur einleitend erwähnten Kategorie der tiefschürfend klingenden Banalitäten. Dem ist aber nicht so, wenn man sich den Ursprung bzw. den tatsächlichen Inhalt des Satzes vergegenwärtigt. Denn er fasst im Kern eine ganze Wissenschaftsrichtung zusammen, und zwar die sog. Chaos-Theorie oder Chaosforschung.

Diese beschäftigt sich nicht, wie oft vermutet wird, mit den Auswirkungen von zufälligen Ereignissen, also der Schaffung von Chaos durch Zufall, sondern untersucht im Gegenteil die Erzeugung von Chaos durch Faktoren, die durch streng deterministische Gleichungen beschrieben werden können. Dabei sind zwei Aspekte von chaotischen Ereignissen zu unterscheiden.

Zum einen geht es um dynamische Systeme, die nicht einmal besonders kompliziert sein müssen, um chaotische Ereignisse zu erzeugen. Ein besonders einfaches System dieser Art ist ein Doppelpendel, also ein Pendel, an dessen unterem Ende (z. B. am Gewicht) ein weiterer Pendel (ebenfalls mit einem Gewicht) angebracht ist. Wird dieser Pendel angestoßen, so vollführen die beiden Teilpendel innerhalb kürzester Zeit einen chaotischen Tanz von Ausschlägen und Umdrehungen. Wird ein zweiter, identischer Pendel mit einer nur infinitesimal abweichenden Kraft angestoßen, so vollführt er nicht nur ebenso chaotische Bewegungen, sondern diese Bewegungen unterscheiden sich radikal vom ersten Pendel. Beziehungsweise: können sich radikal unterscheiden. Ebendieser Unterschied ist es, der als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird, indem die Abweichung der Ausgangskraft zwar minimal, nichtsdestoweniger aber fundamental wirksam ist.

Der andere Aspekt ist, dass chaotische Ereignisse unter bestimmten Umständen die Eigenschaft haben, Muster zu erzeugen. Eine besonders auffällige Form von Mustern sind die sog. seltsamen Attraktoren. Darunter ist zu verstehen, dass manche chaotischen Systeme zwar chaotische Ereignisse erzeugen, dass sich diese Ereignisse aber immer in der Nähe einer bestimmten Ausprägung bzw. eines bestimmten Werts befinden.

Aus der Beschäftigung mit Populationsdynamik stammt ein einfaches Beispiel, um dies zu illustrieren. Hierzu geht man zuerst von einer Population von Pflanzenfressern aus, etwa kleinen Nagetieren, die in einem begrenzten Territorium leben und sich mit einer bestimmten Fortpflanzungsrate vermehren, bis das Maximum erreicht ist, weil die Nahrungsquellen nicht mehr Tiere erlauben. Existiert in diesem Territorium ein Fressfeind, der sich von den Nagetieren ernährt und einen von deren Anzahl abhängigen Teil frisst (für mathematisch Interessierte: hier kommt eine logistische oder Verhulst-Gleichung zum Einsatz), ergibt sich ein interessantes Bild: Beträgt die Vermehrungsrate der Nager weniger als 1, sinkt die Population der Tiere kontinuierlich, bis sie ausgerottet sind und die Fressfeinde sich nach einer neuen Nahrungsquelle umsehen müssen. Ist die Vermehrungsrate hingegen größer als 1, also z. B. 2, dann kommt es wegen der von der Zahl der Nagetiere abhängigen Zahl der Fressfeinde zu chaotischen Entwicklungen, die sich aber kontinuierlich einer Größe von ca. 66 % annähern und in deren Umfeld verbleiben. Wenn die Vermehrungsrate auf 2,5 steigt, kommt es zu anderen chaotischen Entwicklungen, die aber ebenfalls auf die Größe von 66 % hinauslaufen. Diese Zahl wird damit zu einem (seltsamen) Attraktor für das chaotische System der Populationsentwicklung mit einem Pflanzenfresser und einen Fressfeind.

Damit ist es aber des Seltsamen noch nicht genug. Denn wenn die Vermehrungsrate den kritischen Wert 3 erreicht, passiert etwas ganz Neues: Die chaotischen Schwankungen nähern sich nicht mehr einem Attraktor an, sondern springen nach einigen Zyklen von einem höheren Wert zu einem niedrigeren, um nach einigen Zyklen wiederum zum höheren zurückzukehren. Und je höher die Vermehrungsrate ist, desto mehr Attraktoren gibt es, bis bei einer Vermehrungsrate von 3,57 die Anzahl der Attraktoren unendlich wird und damit keine Muster der Ausbreitung mehr festzustellen sind.

Diese Prozesse, so muss noch einmal betont werden, sind nicht Ergebnis von zufälligen Ereignissen, sondern Resultat streng deterministischer, aber rekursiv wirkender Zusammenhänge. Sie existieren nicht nur bei Tierpopulationen, sondern sind auch in der Genetik, bei der Informationsverbreitung, in der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen anzutreffen.

Wem beim Hinweis auf die Vermehrungsrate von unter 3 und dem damit zusammenhängenden seltsamen Attraktor von 66 % ein aktuelles Thema einfällt, hat ein weiteres Feld der Anwendung dieses theoretischen Modells entdeckt; denn auch die Ausbreitung von Pandemien folgt dem geschilderten Muster. Egal, wie hoch die anfängliche Verbreitung eines Virus ist, er wird sich bei einer Reproduktionsrate von mehr als 1 und weniger als 3 solange weiter verbreiten, bis eine Ansteckungsquote von 60-70 % erreicht ist. Dem kann im wesentlichen nur mit einer Maßnahme begegnet werden, nämlich die Geschwindigkeit der Ausbreitung so lange zu reduzieren, bis durch eine Impfung die Vermehrungsrate auch ohne soziale Distanzierung usw. unter den kritischen Wert von 1 sinkt. Für andere Infektionskrankheiten, deren Vermehrungsrate bei 4 oder höher liegt, sind die Entwicklungen aufgrund der dann unvermeidlichen Ausbreitungsvorgänge ohne definierbaren Attraktor nicht mehr vorherzusagen. Hier gibt es je nach Schwere der Krankheit nur noch den Versuch der völligen Ausrottung per Impfung, wie es bei den Pocken vollständig und bei anderen Krankheiten wie Polio oder Masern zeitweise gelungen ist.

All das könnte uns der Schmetterling mitteilen, wenn wir nur zuhören wollten und ihn nicht ausschließlich für das Wetter verantwortlich machten.

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