Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 14 von 31)

Regeln

Regeln – die ja Handlungen grundsätzlich einschränken, verhindern oder erzwingen – haben zur Zeit einen denkbar schlechten Ruf. Man denke nur an die Grünen, denen beim Vorschlag einer neuen Regel (etwa: Abschaffung von Binnenflügen) der Vorwurf der „Verbotspartei“ entgegenschallt, woraufhin die Partei sofort einen Rückzieher macht – eine Verbotspartei möchte man nun wirklich nicht sein. Wirtschaftsvertreter jammern lautstark über viel zu viele Regelungen, die sie am selbstlosen Arbeiten für die Wohlstandsmehrung aller hindere. Und die Freunde der ungebremsten Durchseuchung – vulgo: Querdenker – wähnen sich bereits im Freiheitskampf gegen eine Diktatur, weil es in geschlossenen Räumen teilweise eine Maskenpflicht gibt, gegen die man sich mit Erschießung von Tankwarten zu wehren gedenkt. Angesichts dieser vielfältigen Bemühungen um Freiheiten und gegen Regeln fehlt eigentlich nur noch, dass sich frisch enttarnte Kinderschänder als Vorkämpfer der Freiheit inszenieren, wenn sie ihren kleinen Liebhabereien frönen.

Was bei all diesem Getöse untergeht, sind zwei Fragen: Wo spielen Regeln eine Rolle, und wie ist das Verhältnis von Freiheit und Regeln zu bewerten?

Für die erste Frage sollen zunächst ein paar Beispiele angeführt werden. So ist es erlaubt, den Ehepartner als „verblödetes Rindvieh“ zu titulieren, bei der Nachbarin ist es hingegen strafbar. Beim Sommerfest des Sportvereins kann problemlos selbst gebackener Kuchen verkauft werden, in der städtischen Fußgängerzone aber nicht. Ohne ärztliche Ausbildung und Zulassung kann nicht als Arzt gearbeitet werden, als Heilpraktiker jedoch darf man die absurdesten Heilverfahren anwenden. Und während es auf deutschen Autobahnen kein grundsätzliches Tempolimit gibt, ist es strengstens verboten, die Gegenfahrbahn zu benutzen. Diese Aufzählung könnte endlos fortgesetzt werden; eines ist dabei offensichtlich: In allen Bereichen des privaten und gesellschaftlichen Lebens gibt es Regeln, die manchmal selbstverständlich, manchmal aber auch umstritten sind. In vielen Situationen wäre es wünschenswert, viel mehr Regeln zu haben, in anderen ist es eher nicht so. Angesichts der Vielfalt an Regeln ist daher zunächst kaum verständlich, dass etwa die Maskenpflicht als Einschränkung grundgesetzlich garantierter Freiheiten bezeichnet wird, gilt das doch für unzählige Regeln (s. obige Beispiele), die dann alle fundamental abgelehnt werden müssten.

Um diese scheinbar überzogene Position verstehen zu können, ist es nötig, die zweite Frage zu diskutieren: Wie sieht es mit dem Verhältnis von Freiheit und Regeln aus, welche Einschränkungen von Freiheiten durch Regeln gibt es? Die Antwort ist recht einfach. Die beiden Seiten sind nämlich gar keine Gegensätze, sondern Elemente ein und desselben gesellschaftlichen Verhältnisses, bei dem es eben Bevorzugte und Benachteiligte gibt. So ist eine Fußgängerzone sowohl Freiheits- als auch Verbotsgebiet; sie gibt den Fußgängern die Möglichkeit, sich ungestört von Autos dem Warenangebot der Innenstädte zu widmen, während Autofahrer davon ausgeschlossen sind. Die Einschränkung meiner Freiheit, dem Gegenüber die Faust ins Gesicht zu rammen, entspricht seiner Freiheit, sich davor nicht schützen zu müssen. Und die von Regeln wenig oder gar nicht beschränkte Freiheit des Anhäufens von Reichtum ist identisch mit der Verhinderung von Wohlstand und damit der Einschränkung von Freiheit bei anderen. Nicht zuletzt finden sich die Merkmale von Freiheiten und Vorschriften auch in längeren Zeiträumen; so ist die heutige Freiheit zum Anheizen des Klimas verbunden mit den Zwangslagen späterer Generationen, die sich an andere, extreme Lebensbedingungen anpassen müssen.

Das zentrale Element aller Debatten über diese beiden Seiten von Regelungen bzw. Nicht-Regelungen ist konsequenterweise, dass immer nur die Freiheit derjenigen Seite hervorgehoben wird, der man sich selbst zuordnet, nicht aber diejenige der anderen. Ein typisches Beispiel und zugleich Meisterin der Verschleierung dieses Sachverhalts ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung, auf deren Webseite der Redakteur Lukas Weber unter dem Titel „Unfreie Fahrt“ (abgerufen am 5.10.21) schreibt: „Kommt mit der neuen Regierung ein starres Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen? Wenn sich eine Ampel-Koalition für Tempo 130 ausspricht, geht wieder ein Stück Freiheit verloren.“ Noch allgemeiner und damit das eigene Interesse stärker maskierend formuliert es der Redakteur Reinhard Müller unter dem Titel „Die Union als Hebamme“ (abgerufen am 6.10.21) folgendermaßen: „Sollte es zur Ampel-Koalition kommen …, wird die FDP dafür in Haftung genommen werden, wenn die Freiheit flöten geht.“

Vertritt ersterer Autor noch relativ ungeschminkt das Recht der Besitzer massenmordtauglicher Boliden auf Fortbewegung um jeden Preis, den dann die anderen zu zahlen haben, bleibt letzterer Autor nur scheinbar im Ungefähren. Da er Freiheit als solche verteidigt und sich nicht dazu herablässt, eine konkrete Freiheit von oder Freiheit zu einzufordern, formuliert er nichts anderes als das Recht des Stärkeren, das durch keinerlei Regeln zugunsten der Freiheiten bisher Benachteiligter eingeschränkt werden dürfe. Genau damit aber erweisen sich Regeln als die einzige wirksame Bastion gegen die Hegemonialansprüche einer mächtigen Minderheit; und der aktuell schlechte Ruf von Regeln entpuppt sich als Teil einer Propagandastrategie zum Erhalt politischer, sozialer und wirtschaftlicher Privilegien.

Schweine und Welterklärung

Wenn man sich die zahlreichen Verschwörungserzählungen und Schwurbeleien ansieht und nach den Gründen für ihren Erfolg fragt, findet man neben dem Umstand, dass man damit gut Geld verdienen oder zumindest seine mediale Bedeutung („likes“) erhöhen kann, vor allem psychologische Erklärungen. Dazu gehört etwa, dass deren Anhänger in einer als kompliziert wahrgenommenen Welt einfache Antworten suchen oder in einem Angstszenario die Illusion der Selbstermächtigung aufrecht erhalten wollen. So sehr dies in gewissem Maße sicherlich zutrifft, so wenig ist damit die innere Logik dieser Erzählungen, auch und vor allem dann, wenn ihre Unlogik augenfällig ist, begriffen.

Ein Weg zu einem besseren Verständnis scheint mir mit dem periodischen Verzehr von Schweinen verbunden zu sein, genauer: mit Roy A. Rappaports berühmter Studie „Pigs for the Ancestors“ (1968). Worum geht es darin? Rappaport berichtet hier von der Bewältigung eines großen ökologischen und zugleich gesundheitlichen Problems bei den Maring, einem Volksstamm auf Neuguinea. Das Problem besteht – kurz zusammengefasst – darin, dass die Maring den größten Teil des Jahres von den pflanzlichen Produkten ihrer Hausgärten leben, während sich die wildlebenden Schweine in der Umgebung stark vermehren und dann die Gärten verwüsten. In dieser Situation veranstalten die Maring ein großes Fest, bei dem die Schweine getötet und verspeist werden, was zwei Effekte hat: die Zahl der Tiere und damit der Angriffe auf die Gärten wird reduziert und der Eiweißhaushalt der Menschen wieder in Ordnung gebracht.

Das Bemerkenswerte an dieser sehr wirksamen doppelten Regulierung (der inneren wie der äußeren Natur) ist der Umstand, dass die Maring dafür keinerlei ökologische und ernährungsphysiologische Kenntnisse und auch kein entsprechendes Vokabular benötigen. Das Schweinemassaker wird vielmehr religiös begründet; anstatt ökologische oder Ernährungs-Probleme anzugehen, lösen die Maring sakrale Aufgaben: Die Schweine sterben für die Ahnen.

Wenn Niklas Luhmann dies ironisch so kommentiert, dass manchmal „überirdische Dinge leichter und sozusagen pragmatischer zu organisieren sind als irdische“ (Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Opladen 1985, S. 70), dann kann das auch in einer allgemeineren Weise so interpretiert werden, dass Gesellschaften offensichtlich denjenigen Blick auf ihre Probleme haben, der mit den Strukturen dieser Gesellschaften am besten harmoniert. Anders: Für die Maring ist es wenig sinnvoll, hochspezialisierte Fachleute für Ökologie und Ernährungsphysiologie auszubilden, wenn ein simpler Rückgriff auf etablierte Regelungsformen – die Kommunikation mit den Ahnen – völlig ausreichend ist, das geschilderte Problem in den Griff zu bekommen.

Es ist offensichtlich, dass in komplexeren Gesellschaften ein solcher Lösungsweg nicht mehr möglich ist. Mit zunehmender Arbeitsteilung und der Differenzierung der Gesellschaft in immer stärker spezialisierte Funktionssysteme entfernen sich Wissens- und Erklärungsbereiche schon sprachlich, aber auch organisatorisch immer weiter voneinander. Das Schlachten von noch so vielen Schweinen trägt dann nicht dazu bei, dass ein liegengebliebenes Auto wieder mobil wird, und das Anrufen der Ahnen verbessert weder die Pünktlichkeit der Bahn noch die Handyproduktion, ja hilft nicht einmal beim Verlegen einer neuen Wasserleitung. Die Zeit der Universalgelehrten ist ebenso vorbei wie das Vermögen fest definierter Akteure, die Gesamtgesellschaft zu steuern.

Stattdessen ist es die Gesellschaft selbst, die diese Steuerung leistet. Alle Versuche (so sie überhaupt stattgefunden haben), etwa die wirtschaftlichen Aktivitäten während der Pandemie politisch zu regulieren, waren zunächst chaotisch und ineffektiv; außer Laufenlassen, Zusperren und Geldverteilen gab es keine Lösungen. Erst die Interventionen zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure v. a. aus den Wissenschaften führten langsam zu wirkungsvolleren Maßnahmen. Ähnliche Defizite der politischen Steuerung existieren in zahlreichen anderen Bereichen und werden letztlich nur durch Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft behoben oder zumindest reduziert.

Wie das Beispiel der Maring zeigt, kann davon gesprochen werden, dass die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft mit ihrer inneren Struktur korrespondiert; eine religiöse Selbstbeschreibung bietet dort die Handlungsperspektive, auftretende Probleme auf der sakralen Ebene zu lösen. Ebenso dient die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als Leistungsgesellschaft dazu, Probleme als Aufforderung zu besserem, d. h. der Situation besser entsprechendem Handeln der Individuen zu verstehen und somit die politischen Eliten von Verantwortlichkeiten zu entlasten. Und der aktuelle Fokus mancher Debatten auf dem Diskriminierungsaspekt verschiebt den Blick von der Logik sozioökonomischer Ungleichheit auf die Unachtsam- oder gar Böswilligkeit von Individuen, denen durch kollektive und administrative Handlungen zu begegnen ist.

Was folgt aus diesen Überlegungen für die Einschätzung von Verschwörungstheorien? Wenn alles – oder zumindest die wesentlichen Elemente der Gesellschaft – von Verschwörern geplant und gestaltet ist, wenn es also eine klar umrissene Gruppe von Akteuren gibt, die für alles verantwortlich ist, dann hat das zwei Konsequenzen: Erstens ist nach diesem Weltbild die Gesellschaft (hier: der Verschwörungsopfer) von außen gesteuert, wofür bei den Maring die Ahnen zuständig sind. Aber anders also bei den Maring wird zweitens diese Determinierung von außen nicht durch Opfergaben zu beeinflussen versucht, sondern zu dessen Beseitigung aufgerufen.

Damit ist nicht nur das Weltbild der Verschwörungstheoretiker mit einer modernen komplexen Gesellschaft nicht vereinbar, sondern trägt die Konsequenz in sich, diese abschaffen zu müssen. Denn gerade die komplexen, nachgerade chaotischen Prozesse der Moderne werden als Beleg dafür angesehen, dass finstere Gesellen dem naiven Rest der Bevölkerung Böses wollen. Das Gegenbild besteht darin, ebendiese Moderne durch einfach nachvollziehbare, quasi harmonische Zustände und Entscheidungsformen zu ersetzen. Es liegt daher auf der Hand, dass die Rückkehr zu einer mythisch grundierten, von weisen Männern und Frauen geführten Gesellschaft nur mit der völligen Zerstörung aller Elemente der Moderne zu erreichen ist. Auch deshalb offenbart die Kommentierung von Verschwörungstheorien als allein psychologisches Problem eine groteske Unterschätzung des Phänomens.

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