Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 13 von 31)

Ultimatum

Crommschröder legt sich sogar eine kleine Theorie zurecht, nach der es vollkommen folgerichtig ist, dass er und niemand anders in diesem Büro sitzt und 1,17 Millionen Euro verdient. Noch nie hat er einem Menschen von dieser Theorie erzählt, aber er glaubt an sie. Felsenfest. Der Mensch, das ist die Prämisse seiner Theorie, ist ein soziales Wesen. Er kann nur überleben, indem er mit anderen Menschen kooperiert, Unterkünfte baut, gemeinsam Land bewirtschaftet oder gemeinsam Lebensmittel produziert und Wohnstätten baut. Ohne Kooperation mit anderen ist der Einzelne verloren. Daher ist es ein jedem Menschen natürlich innewohnender Trieb, nützlich für die Gesellschaft zu sein.

Er, Crommschröder, muss gegen diesen Trieb handeln, gegen die menschliche Natur.

Denn er nützt der Gesellschaft nicht, sondern gräbt ihr, im wahrsten Sinn des Wortes, das Wasser ab. Sein alleiniges Ziel ist es, die Taschen der Aktionäre und seine eigenen zu füllen. Er muss daher in jeder Minute seines Lebens gegen den natürlichen Instinkt handeln. Ihn immer unter Kontrolle halten. Er fühlt sich innerlich geradezu deformiert. Und dafür, so denkt er, sind 1,17 Millionen eine angemessene Entschädigung.

(aus: Wolfgang Schorlau: Fremde Wasser. Köln 2006)

 

In der Süddeutschen Zeitung wird von einer Studie berichtet, in der an Hand eines Computerspiels das Verhalten zweier Spielergruppen untersucht wurde (Christoph von Eichhorn: Randale im virtuellen Garten. Abgerufen am 23.9.21: sz.de/1.5419551). Beide Gruppen hatten die Aufgabe, im Wettbewerb einen – virtuellen – Garten zu gestalten und zu pflegen, und konnten gleichzeitig die Entwicklung des Gartens der anderen Gruppe beobachten. Zudem war es ihnen möglich, den Garten der anderen zu sabotieren, was jedoch zunächst keine Rolle spielte. Als die Spielleiter jedoch – ohne die beiden Gruppen zu informieren – die Bedingungen der einen Gruppe, ihren Garten zum Gedeihen zu bringen, stark verschlechterten und deren Garten trotz aller Bemühungen unansehnlicher wurde, beschädigte diese Gruppe zunehmend den Garten der anderen Gruppe. Die Schlussfolgerung der Forscher – so der Zeitungsartikel – lautete daher, dass destruktives Verhalten als Resultat von Benachteiligung interpretiert werden kann.

Was aus diesem Artikel jedoch nicht hervorging, ist der Umstand, dass es sich bei dieser Simulation offensichtlich um eine Variante des bekannten Ultimatumspiels handelt, das einerseits ein weltweit anzutreffendes Verhalten dokumentiert, andererseits aber in seiner Anbindung an politisch-ökonomische Theorien noch nicht ausreichend analysiert worden zu sein scheint. Dies soll im folgenden unternommen werden. Doch zunächst: Worum geht es beim Ultimatumspiel?

Das Ultimatumspiel existiert in vielerlei Varianten, die z. B. an die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort angepasst wurden, und hat das Ziel, Entscheidungen über die Verteilung von Gütern spieltheoretisch zu messen (vgl. dazu: Henrich, J./Heine, S./Norenzayan, A.: The Weirdest People in the World? In: Behavioral and Brain Sciences 33/2010, S. 61–135). Eine einfache Variante funktioniert so: Es gibt zwei Spieler, von denen der eine 10 € erhält, dies mit der Aufgabe, dem Mitspieler einen beliebigen Teil davon anzubieten. Nur wenn dieser die Aufteilung akzeptiert, wird sie auch vollzogen. Wenn nicht, erhält keiner der Mitspieler etwas, die 10 € sind verloren. Die Spanne des Anteils, das der Mitspieler erhält, liegt somit zwischen einem Minimum (hier: 1 ct) und der Hälfte (5 €).

Die Empirie, d. h. die Erfahrung mit diesem Spiel, zeigt nun, dass das Minimum vom Mitspieler nie akzeptiert wird; die „Lösung“ des Spiels liegt zumeist zwischen 30 und 40 %, d. h. nur bei einem solchen Angebot ist der Mitspieler bereit, die Aufteilung zu akzeptieren. Zudem zeigen sich soziokulturelle Unterschiede; in Gesellschaften ohne starke Arbeitsteilung, in denen (der Zwang zur) Kooperation geringer ausgeprägt ist, ist auch der akzeptierte Teilbetrag geringer (teilweise unter 30 %). Andere, zusätzliche Faktoren der Kooperation hingegen bewirken, dass sich die Teilnehmer sogar auf einen höheren Anteil als 40 % einigen (müssen), um erfolgreich zu sein.

Offensichtlich – so zeigt auch das eingangs skizzierte Experiment – bewirken Ereignisse (hier: Eingriffe der Spielleitung), die für eine übermäßige Bevorzugung einer Gruppe sorgen, dass Aktivitäten ergriffen werden, die den anderen schaden, bis ein gewisser Ausgleich, wenn auch in negativer Hinsicht, erreicht ist. Das entspricht der Haltung im Ultimatumspiel, lieber selbst nichts zu bekommen als die Unterschiede zum Mitspieler zu groß werden zu lassen.

Zwei Punkte lassen sich aus diesen Experimenten ableiten: Erstens sind die Menschen bereit, Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen zu tolerieren; und zweitens endet diese Toleranz nicht weit von einem Verhältnis von 1:2 (wenn jemand einer Aufteilung zustimmt, bei der er ein Drittel der Gesamtsumme erhält, verbleiben beim anderen zwei Drittel, also das Doppelte des ersteren). Angesichts dieses Ergebnisses stellt sich die Frage, warum die tatsächlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede weitaus größer sind, mithin wie es Gesellschaften mit eklatanten Unterschieden geben kann, ohne dass der Garten des anderen zerstört wird oder ungleiche Verteilungen gleich ganz verhindert werden.

Darauf können die erwähnten Studien keine Antwort geben, ja stellen sich die Frage erst gar nicht. Und wenn schon hauptberufliche Psychologen scheitern, soll hier von vornherein darauf verzichtet werden, auf diesem Gebiet eine Antwort zu finden. Sieht man von der immer mitschwingenden Androhung von Gewalt gegen diejenigen ab, die die existierenden Wohlstandsunterschiede verringern wollen, muss man in erster Linie Formen der Selbstbeschreibung der Gesellschaft anführen, die dieser eine starke Gleichgültigkeit gegenüber Ungleichheit verleihen.

Ein erster Ansatz könnte in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Marktwirtschaft liegen. So wird etwa gegenüber ungleichheitsreduzierenden Maßnahmen gerne angeführt, dass dies den Gesetzen der Ökonomie (was in diesen Fällen den Terminus „Marktwirtschaft“ ersetzt) widerspreche. Tatsächlich rütteln die Ergebnisse des Ultimatumspiels in fundamentaler Weise an den Grundfesten der Marktwirtschaft bzw. deren theoretischer Begründung. Alle Modelle der entsprechenden Wirtschaftswissenschaften (sog. Neoklassik) basieren nämlich auf einer Konstante: dem Menschenbild des homo oeconomicus, der grundsätzlich gewinnorientiert rational handelt. Dies wurde auch in zahlreichen Kommentaren zum Ultimatumspiel bemerkt, wenn darauf hingewiesen wird, dass nach dem Konzept des homo oeconomicus der zweite Spieler jedes Angebot, auch das von 1 ct, akzeptieren müsse, ist dies doch eindeutig mehr als gar nichts, was bei einer Ablehnung die unausweichliche Folge sei.

Die Leistung einer Selbstbeschreibung der Gesellschaft als Marktwirtschaft liegt dann darin, dass sie in einem eher von persönlichen Interaktionen geprägten Umfeld (wie es das Ultimatumspiel zweifellos ist) scheinbar ökonomisch sinnwidriges Verhalten toleriert, für die Wirtschaft als Ganzes aber am Konstrukt des homo oeconomicus festhält, suggeriert dieses doch, dass derjenige, der mit einem Minimaleinkommen bedacht wird, dies akzeptieren muss, da es aus den Gesetzen der Marktwirtschaft resultiert (vgl. aktuell die „ökonomische“ Begründung für einen möglichst niedrigen Mindestlohn). Wie zu sehen war, ist aber bereits die konzeptionelle Grundlage bzw. ihre neoklassische Fundierung empirisch nicht zu halten, dient aber im politisch-ökonomischen Alltag als gut funktionierendes Propagandamittel.

In gewisser Weise zu reparieren wäre dieses Manko, wenn man die Differenz zwischen 1ct und dem 30 %- oder 40 %-Anteil als Kosten für die Aufrechterhaltung von Gesellschaft, als Preis für die Kooperation der einzelnen Menschen in die Konzeption der Marktwirtschaft integrieren würde. Personen wie die ehemalige britische Premierministerin Thatcher oder ihr Nachfolger Major dürften genau dies im Sinn gehabt haben, als sie die Existenz einer „Gesellschaft“ vehement bestritten, um damit die Umverteilung von Einkommen von unten nach oben zu rechtfertigen. Eine größere Reaktion im Sinne des Ultimatumspiels erfolgte daraufhin nicht, was die Wirksamkeit des Selbstbeschreibungstyps „Marktwirtschaft“ zu bestätigen scheint.

Eine zweite Erklärung für die beschriebene Diskrepanz ist die ebenfalls verbreitete Leistungsideologie, d. h. die empirisch durch nichts zu belegende Vermutung, Einkommensunterschiede hätte etwas mit Unterschieden von „Leistung“ (etwa zwischen Fahrradkurieren und Immobilienerben) zu tun. Ist ein solches Denken aber erst einmal stabil in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft verankert, kann derjenige, der die 10 € (oder gerne etwas mehr) zur weiteren Verwendung erhält, demjenigen, der der Aufteilung zustimmen muss, suggerieren, dass eine Aufteilung von 1:20 oder 1:100 durch Leistungsunterschiede gerechtfertigt ist und er daher dieser Aufteilung zuzustimmen habe.

Eine dritte Erklärung setzt an der Unsichtbarkeit von Einkommens- und Vermögenszuwächsen an. Im Ultimatumspiel ist offensichtlich, woher die 10 € stammen – vom Spielleiter; d. h. Einkommen bzw. Vermögen haben eine externe Quelle, die adressiert werden kann, weshalb die beiden Mitwirkenden sich nur noch für die Verteilung, nicht aber für die Entstehung des Einkommenszuwachses zu interessieren haben. Im echten Leben hingegen war es immer eine Frage, wie sich Vermögen als solches vermehrt. Für bürgerliche oder marxistische Autoren war bis ins 20. Jh. hinein die Antwort auf diese Frage recht einfach: Wenn etwas produziert wird und die Kosten der dafür notwendigen Arbeitskraft niedriger sind als (nach Abzug der sonstigen Kosten) der Preis des Produkts, dann verbleibt beim Kapitaleigner ein Mehrwert, sein Vermögen steigt. Damit führt diese Form von Wachstum (wie es bis heute im Bruttoinlandsprodukt dokumentiert wird) naturwüchsig zu einem Anwachsen von Ungleichheit, ohne dass deren Ursache offensichtlich wäre (außer man gehört zur aussterbenden Gattung marxistischer Beobachter). Die klassische Form des Umgangs mit dieser Entwicklung sind staatliche und andere Eingriffe, etwa über Tarifverträge, administrative Regelungen, Steuern, Sozialversicherungen usw. Diese sind im Gegensatz zur Vermögens- und damit Ungleichheitsentstehung sichtbar und damit immer auch Element gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Gegenüber diesen quasi traditionellen Vorgängen weisen zwei weitere, aktuelle Formen von Einkommens- und Vermögensentstehung einen noch höheren Unsichtbarkeitsgrad auf. Der erste Typus realisiert sich in der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen. Ein wesentliches, aber bei weitem nicht alleiniges Element sind die sozialen Medien. Sie dienen scheinbar in erster Linie dazu, menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen – Kontakte zu finden, gelobt zu werden, Anhänger zu haben, kurz: wichtig zu sein. Aber zugleich kommerzialisieren sie diese sozialen Beziehungen, was auf mehreren Ebenen unsichtbar bleibt.

So können etwa Inhaber von Webseiten, wenn diese stark frequentiert werden, über Werbung Einkommen erzielen, ohne dass dies für die Besucher der Seite augenfällig ist. Noch gravierender ist die Position der Plattformen selbst, da sie nicht nur über Werbung Geld verdienen, sondern auch und vor allem die Daten der Nutzer abschöpfen und diese dann für verschiedenste Zwecke verkaufen (können). Dadurch entstehen auf mehreren Ebenen Einkommen, die scheinbar aus dem Nichts heraus generiert werden.

Der zweite Typus eines unsichtbaren Einkommens trägt seine Merkmale bereits in seinen Bezeichnungen – es geht um den grauen Kapitalmarkt, um Schattenbanken und ähnliches. Ein wichtiges Element sind etwa Hypothekenschulden, die zu Wertpapieren zusammengefasst (CDO) und als Finanzwetten im Interbankenhandel (Swap) platziert werden. Diese und ähnliche Produkte können in beliebiger Anzahl erzeugt werden, da sie lediglich auf dem Versprechen einer zukünftigen Rendite basieren, und erzeugen so bei den beteiligten Kapitalgesellschaften ein enormes Vermögen. Problematisch wird dies in zwei Fällen – wenn die Wetten nicht aufgehen (wie bei der Pleite von Lehman Brothers 2007 und der davon ausgelösten globalen Finanzkrise) und dann die Steuerzahler die Zeche zahlen (müssen), und wenn das angehäufte Kapital Anlagemöglichkeiten in der Realwirtschaft sucht (aktuell etwa im Immobiliensektor oder in der share economy). In diesen Fällen wird etwas sichtbar, das üblicherweise nicht nur unsichtbar ist, sondern auch kaum kontrolliert wird: Einkommens – und Vermögenserzeugung allein durch die Schaffung von Finanzinstrumenten. Es wird geschätzt, dass in entsprechenden Finanzprodukten mehr als das Zehnfache des globalen Bruttosozialprodukts kursiert.

In dieser Situation ist es offensichtlich ausgeschlossen, an eine Angleichung von Einkommen und Vermögen überhaupt nur zu denken. Hier hilft auch kein Ultimatumspiel. Vielleicht ist dann die Zerstörung von Nachbars Garten tatsächlich die einzig verbleibende Lösung.

Regeln

Regeln – die ja Handlungen grundsätzlich einschränken, verhindern oder erzwingen – haben zur Zeit einen denkbar schlechten Ruf. Man denke nur an die Grünen, denen beim Vorschlag einer neuen Regel (etwa: Abschaffung von Binnenflügen) der Vorwurf der „Verbotspartei“ entgegenschallt, woraufhin die Partei sofort einen Rückzieher macht – eine Verbotspartei möchte man nun wirklich nicht sein. Wirtschaftsvertreter jammern lautstark über viel zu viele Regelungen, die sie am selbstlosen Arbeiten für die Wohlstandsmehrung aller hindere. Und die Freunde der ungebremsten Durchseuchung – vulgo: Querdenker – wähnen sich bereits im Freiheitskampf gegen eine Diktatur, weil es in geschlossenen Räumen teilweise eine Maskenpflicht gibt, gegen die man sich mit Erschießung von Tankwarten zu wehren gedenkt. Angesichts dieser vielfältigen Bemühungen um Freiheiten und gegen Regeln fehlt eigentlich nur noch, dass sich frisch enttarnte Kinderschänder als Vorkämpfer der Freiheit inszenieren, wenn sie ihren kleinen Liebhabereien frönen.

Was bei all diesem Getöse untergeht, sind zwei Fragen: Wo spielen Regeln eine Rolle, und wie ist das Verhältnis von Freiheit und Regeln zu bewerten?

Für die erste Frage sollen zunächst ein paar Beispiele angeführt werden. So ist es erlaubt, den Ehepartner als „verblödetes Rindvieh“ zu titulieren, bei der Nachbarin ist es hingegen strafbar. Beim Sommerfest des Sportvereins kann problemlos selbst gebackener Kuchen verkauft werden, in der städtischen Fußgängerzone aber nicht. Ohne ärztliche Ausbildung und Zulassung kann nicht als Arzt gearbeitet werden, als Heilpraktiker jedoch darf man die absurdesten Heilverfahren anwenden. Und während es auf deutschen Autobahnen kein grundsätzliches Tempolimit gibt, ist es strengstens verboten, die Gegenfahrbahn zu benutzen. Diese Aufzählung könnte endlos fortgesetzt werden; eines ist dabei offensichtlich: In allen Bereichen des privaten und gesellschaftlichen Lebens gibt es Regeln, die manchmal selbstverständlich, manchmal aber auch umstritten sind. In vielen Situationen wäre es wünschenswert, viel mehr Regeln zu haben, in anderen ist es eher nicht so. Angesichts der Vielfalt an Regeln ist daher zunächst kaum verständlich, dass etwa die Maskenpflicht als Einschränkung grundgesetzlich garantierter Freiheiten bezeichnet wird, gilt das doch für unzählige Regeln (s. obige Beispiele), die dann alle fundamental abgelehnt werden müssten.

Um diese scheinbar überzogene Position verstehen zu können, ist es nötig, die zweite Frage zu diskutieren: Wie sieht es mit dem Verhältnis von Freiheit und Regeln aus, welche Einschränkungen von Freiheiten durch Regeln gibt es? Die Antwort ist recht einfach. Die beiden Seiten sind nämlich gar keine Gegensätze, sondern Elemente ein und desselben gesellschaftlichen Verhältnisses, bei dem es eben Bevorzugte und Benachteiligte gibt. So ist eine Fußgängerzone sowohl Freiheits- als auch Verbotsgebiet; sie gibt den Fußgängern die Möglichkeit, sich ungestört von Autos dem Warenangebot der Innenstädte zu widmen, während Autofahrer davon ausgeschlossen sind. Die Einschränkung meiner Freiheit, dem Gegenüber die Faust ins Gesicht zu rammen, entspricht seiner Freiheit, sich davor nicht schützen zu müssen. Und die von Regeln wenig oder gar nicht beschränkte Freiheit des Anhäufens von Reichtum ist identisch mit der Verhinderung von Wohlstand und damit der Einschränkung von Freiheit bei anderen. Nicht zuletzt finden sich die Merkmale von Freiheiten und Vorschriften auch in längeren Zeiträumen; so ist die heutige Freiheit zum Anheizen des Klimas verbunden mit den Zwangslagen späterer Generationen, die sich an andere, extreme Lebensbedingungen anpassen müssen.

Das zentrale Element aller Debatten über diese beiden Seiten von Regelungen bzw. Nicht-Regelungen ist konsequenterweise, dass immer nur die Freiheit derjenigen Seite hervorgehoben wird, der man sich selbst zuordnet, nicht aber diejenige der anderen. Ein typisches Beispiel und zugleich Meisterin der Verschleierung dieses Sachverhalts ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung, auf deren Webseite der Redakteur Lukas Weber unter dem Titel „Unfreie Fahrt“ (abgerufen am 5.10.21) schreibt: „Kommt mit der neuen Regierung ein starres Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen? Wenn sich eine Ampel-Koalition für Tempo 130 ausspricht, geht wieder ein Stück Freiheit verloren.“ Noch allgemeiner und damit das eigene Interesse stärker maskierend formuliert es der Redakteur Reinhard Müller unter dem Titel „Die Union als Hebamme“ (abgerufen am 6.10.21) folgendermaßen: „Sollte es zur Ampel-Koalition kommen …, wird die FDP dafür in Haftung genommen werden, wenn die Freiheit flöten geht.“

Vertritt ersterer Autor noch relativ ungeschminkt das Recht der Besitzer massenmordtauglicher Boliden auf Fortbewegung um jeden Preis, den dann die anderen zu zahlen haben, bleibt letzterer Autor nur scheinbar im Ungefähren. Da er Freiheit als solche verteidigt und sich nicht dazu herablässt, eine konkrete Freiheit von oder Freiheit zu einzufordern, formuliert er nichts anderes als das Recht des Stärkeren, das durch keinerlei Regeln zugunsten der Freiheiten bisher Benachteiligter eingeschränkt werden dürfe. Genau damit aber erweisen sich Regeln als die einzige wirksame Bastion gegen die Hegemonialansprüche einer mächtigen Minderheit; und der aktuell schlechte Ruf von Regeln entpuppt sich als Teil einer Propagandastrategie zum Erhalt politischer, sozialer und wirtschaftlicher Privilegien.

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