Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 12 von 31)

Liebe

Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.

Wie bitte?! Gibt es nicht eher viel zu viel Hass, Aggression, Missgunst und so weiter? Wie kann es da zu viel Liebe geben?

Gehen wir mal systematisch vor.

Traditionell, d. h. seit es überhaupt entsprechende Informationen gibt, war Liebe ein Element von Verwandtschaftsbeziehungen, oft begrenzt auf das Eltern-Kind-Verhältnis. Liebe war und ist eine überaus sinnvolle Komponente dieser Beziehungsform, bewahrt es doch das Kind davor, gleich nach der Geburt ertränkt zu werden, und verringert den Anreiz des Kindes, nach der Überschreibung etwa eines landwirtschaftlichen Betriebs die Eltern durch Nahrungsmittelentzug oder ähnliches möglichst schnell unter die Erde zu bringen, wie es bis ins 20. Jh. hinein nicht nur im Alpenraum weit verbreitet war. Nach der Erfindung des Monotheismus wurde außerdem die Gottesfurcht immer stärker um die Liebe zu Gott ergänzt, was insofern eine nur unwesentliche Innovation war, als dieser Gott nach dem Muster des Familienpatriarchen konstruiert war, so dass sich der Charakter der Liebe kaum veränderte.

Diese Jahrtausende währende Beschränkung von Liebe fand erst vor wenigen Jahrhunderten eine Erweiterung. Zum einen wurde die romantische Liebe erfunden, was für die Beteiligten zumindest anfänglich eine sehr schöne Neuerung war. Zum anderen entstand die Vaterlandsliebe, was aufgrund der damit verbundenen allgemeinen Wehrpflicht für die Beteiligten eher weniger schön war.

Verglichen mit diesen wenigen Ausformungen von Liebe ist heute eine wahre Inflation von Liebe festzustellen. Wenn eine bekannte Supermarktkette von sich behauptet, Lebensmittel zu lieben, ist das nur die Spitze des Eisbergs an Liebe. Denn zahlreiche Immobilienmakler und ‑verwalter bekunden ihre Liebe zu Immobilien, auch Tiere werden geliebt, Autos, Musik, Pfannkuchen und eigentlich alles. Aber nicht nur die Objekte der Liebe vermehren sich ins Beliebige, sondern auch die Subjekte. Eine besonders rätselhafte Form der Liebe ist die Liebe der Städte. So liebt dich etwa Offenburg, wie der gleichnamige Film der dortigen Stadtverwaltung verkündet, aber auch Pforzheim, was mit dem Kauf einer gleichnamigen Briefmarke beantwortet werden kann, oder Flensburg. Auch Sylt liebt dich; gemeint ist hier aber nicht die Insel, sondern ein Anbieter (Ehepaar mit Kind und Hund Greta) von drei Ferienwohnungen in Westerland. Und wenn Helene dich liebt, dann ist das die Aufforderung zum Besuch der Münchener Gaststätte dieses Namens. Der fleißigste Liebende, dessen Liebe von Webseiten, Autoaufklebern und Buchtiteln herunterbrüllt, ist übrigens Gott. Wie gesehen, befindet er sich in guter Gesellschaft.

Nun ist es wohl nicht zu verwegen, wenn man vermutet, dass die Liebe zu Lebensmitteln, Immobilien usw. nur eine Metapher für die Liebe zum Geld des Kunden ist und die Liebe der Städte ein besonderer Dreh des Stadtmarketings. Ebenfalls zum Marketing ist die Liebe Gottes zu zählen. Aber warum existiert diese Inflation an Liebe? Offensichtlich ist es einfacher und überzeugender, Liebe zu behaupten, als befriedigende Dienstleistungen zu erbringen. Dann könnte ein Supermarkt gute Waren in großer Vielfalt zu niedrigen Preisen anbieten, die Makler auf Extraprofite verzichten, die Städte ein anregendes und lebenswertes Ambiente schaffen und Gott dafür sorgen, dass es niemandem an etwas fehlt. All das passiert aber nicht; stattdessen werden wir mit Liebesbekundungen zugeschüttet. Wer davon etwas hat und wer nicht, dürfte offensichtlich sein.

Daher: Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.

Gefühle

Als der Springer-Vorstandsvorsitzende Döpfner seinen Bild-Chef Reichelt loben wollte, betonte er, dieser sei „der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt. Fast alle anderen sind zu Propaganda-Assistenten geworden“. Auf die darauf antwortende Kritik nicht nur der diffamierten Presseorgane und Vermutungen bezüglich seiner Geisteshaltung reagierte Döpfner mit den Worten: „Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich absolut nicht so denke.“ (zit. n. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/springer-chef-doepfner-rechtfertigt-seine-nachricht-im-interview-17626126.html) Dieser Umgang mit der aus seiner Sicht missglückten Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist in zweierlei Hinsicht ebenso traditionell wie aus der Zeit gefallen, dies zum einen, weil er von seinem „Denken“ spricht, und zum anderen, weil er sich überhaupt so verteidigt. Beide Aspekte sollen im folgenden erörtert werden.

Zunächst zum zweiten Punkt. Wenn wir Kommunikation als einen Vorgang verstehen, bei dem jemand – der Sender – einen Inhalt an jemand anderen – den Empfänger – übermittelt, dann repräsentiert der zitierte Satz eine (gewollte oder vermeintliche) Fehlkommunikation und den Versuch, das Problem dadurch zu beheben, dass der Sender dem Empfänger ein Missverstehen vorwirft.

Denn, so Döpfner, wenn ihn jemand kennen würde, würde er ihn nicht missverstehen; es ist demnach die Aufgabe des Empfängers, dafür zu sorgen, dass er ihn nicht missversteht. Ganz ähnlich funktionieren die „Tabubrüche“ auf rechtsradikaler Seite, wo etwa nach menschenfeindlichen Äußerungen die Missverständnis-Karte gezogen wird. Auch die hingebungsvolle Bereitschaft vieler Politiker, die dümmsten und widerlichsten Äußerungen als „Sorgen“ der Bürger zu exkulpieren, reflektiert dieses Kommunikationsverständnis. Es ist offensichtlich der Sender, der entscheidet, wie die Kommunikation zu verstehen ist; er dominiert die Kommunikation.

Diese Haltung, diese Form der Hierarchisierung der Kommunikation ist heute schon fast altmodisch, sie wird mittlerweile durch eine andere Kommunikationshierarchie ersetzt: nämlich eine Kommunikation, in der der Empfänger dominiert und dem Sender vorzuschreiben sucht, was er sagen darf und was nicht. Das sind dann Sprachvorschriften, weil sich jemand „nicht gemeint“ fühlt, falsch angesprochen sieht, ja durch bestimmte Wörter beschimpft oder diskriminiert fühlt. Eine solche Wahrnehmung von Kommunikation schreibt dem Empfänger dass alleinige Recht der Bestimmung über die Kommunikation zu – unabhängig davon, ob der Empfänger überhaupt der Adressat war oder sich nur in die Kommunikation zwischen Dritten einmischt, um diskursive Herrschaft auszuüben.

Auffällig an diesem Kommunikationstyp ist im Gegensatz zum ersten Typ aber nicht nur der Rollentausch zwischen Sender und Empfänger, sondern auch das Wahrnehmungsmedium. Denn während etwa Döpfner von sich behauptet, zu denken, sind es auf Empfängerseite die Gefühle, die sich zu artikulieren scheinen. Dies hat sich mittlerweile zu einer regelrechten Epidemie entwickelt, kaum einer „denkt“ noch, alle „fühlen“. So reagieren etwa Fußballprofis auf die Kritik an einem schlechten Spiel seitens der Fans immer öfter damit, dass sie mit diesen mitfühlten. Und bei Katastrophen oder Attentaten betonen Politiker regelmäßig das Teilen der Gefühle der Betroffenen oder gar das Mitfühlen dieser Gefühle. Gefühle zu äußern adelt somit Kommunikation, denken hingegen scheint aus der Mode gekommen zu sein.

Beides aber ist kommunikativer Nonsens. Denn die Behauptung, dieses oder jenes zu denken oder zu fühlen, ist nichts als ebendies: eine Behauptung. Sie gibt vor, den anderen an einem psychischen Ereignis (Denken, Fühlen) teilnehmen zu lassen, ignoriert aber, dass der andere überhaupt nicht überprüfen kann, ob das zutrifft. Es muss sich nicht gleich um eine Lüge handeln, aber es übersieht den Kern von Kommunikation, nämlich einen Zweck zu haben, also eine Wirkung erzielen zu wollen. Die Behauptung, etwas zu denken oder zu fühlen, ist damit in erster Linie ein performativer, zweckorientierter Akt, kein Einblick in intime Vorgänge.

Dieser Gedanke hilft, in den beschriebenen Kommunikationssituationen nicht die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit und damit den Machtkampf aufzunehmen, sondern eine solche Form von Kommunikation ruhig und begründet zurückzuweisen und notfalls auch abzubrechen. Anschließend ist es jedem unbenommen, für sich etwas zu denken oder gar zu fühlen.

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