Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 12 von 31)

Reinheitspest

Von 1968 bis 1984 verkündete „Clementine“ im Fernsehen, dass das Besondere des von ihr beworbenen Waschmittels sei, nicht nur sauber, sondern rein zu waschen. Mit diesen Werbespots kam der Reinheitsbegriff aus seinen bisherigen, eher geistig-moralischen Sphären auf dem Boden des Tauschwerts einiger (damals:) D-Mark an. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich im selben Zeitraum die Kunst zunehmend entmaterialisierte und sich auf die bloße Deklaration als Kunst beschränkte und zugleich durch diesen metaphysischen Kunstbegriff die Kommerzialisierbarkeit stark ausweitete.

Die idealtypische Kollision dieser beiden Tendenzen erfolgte 1973, als zwei weibliche SPD-Mitglieder in der Vorbereitung einer Feier ihrer Ortsgruppe in einem Nebenraum eines Museums eine verdreckte Kinderbadewanne entdeckten und als überaus geeignet für das Spülen von Gläsern identifizierten – selbstverständlich aber erst nach gründlicher Reinigung, die dann auch erfolgte. Wie sich hinterher herausstellte, handelte es sich aber um ein Kunstwerk von Joseph Beuys, das dort als Leihgabe eines Sammlers gelagert wurde.

Das öffentliche Echo darauf war gewaltig, angefeuert auch durch die Herabstufung der Täterinnen, die im umlaufenden Narrativ zu Putzfrauen umdekoriert wurden. Auf der einen Seite konnte sich nun das kunstbeflissene Bildungsbürgertum über das primitive Proletariat mokieren, das Kunst vernichtet, wenn man sie nicht vor ihm in Sicherheit bringt. Und auf der anderen Seite artikulierte sich das „gesunde Volksempfinden“, das an diesem Beispiel die Abgehobenheit und ästhetische Fragwürdigkeit moderner Kunst effektiv negiert sah.

Lässt man diese kulturkämpferischen Possen zweier Mittelschichtsfraktionen außen vor, kann man eine recht einfache Sequenz des Vorgangs zeichnen. Zunächst ist da eine Kinderbadewanne, die im Sanitärfachhandel zu erwerben ist. Diese gerät in die Hände eines Künstlers, der sie verändert (was auch für Leinwände, Holztafeln, Ton, Marmor usw. als Ausgangsmaterialien bildender Kunst gilt). Mit dieser Veränderung wandelt sich auch das Objekt; es wird vom Ausgangsmaterial, vom nützlichen Gegenstand, zum Kunstwerk.

Diese Umwandlung ist sehr voraussetzungsvoll, sie bedarf deren Definition als künstlerischen Akt. Denn nicht jedes Bemalen einer Leinwand oder Bekleben einer Badewanne macht diese bereits zum Kunstwerk. Nur wenn dies von (genügend) Rezipienten als Kunst angesehen wird, wird der Akteur zum Künstler und das Objekt zum Kunstwerk. Die sprachliche Degradierung der beiden Frauen zu Putzfrauen hat dabei die Funktion, ihr Handeln eindeutig als Vandalismus, d. h. Rückverwandlung eines Kunstwerks in das Ausgangsmaterial zu identifizieren. Es soll damit ausgeschlossen werden, dass die Veränderung eines Objekts ebenfalls als künstlerischer Akt verstanden wird. Stark abweichend wäre die Rezeption nämlich dann gewesen, wenn ein anderer Künstler die Beuys’sche Badewanne geputzt und dies als künstlerischen Akt (etwa in Form einer Performance) inszeniert hätte.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine grundsätzliche Herangehensweise, die für ein aktuelles Beispiel genutzt werden kann. So lief bis Anfang 2022 in der Dresdener Gemäldegalerie eine international hochgelobte Vermeer-Ausstellung. Anlass und künstlerisches Zentrum dieser Ausstellung war das Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (ca. 1657-59), das in seiner frisch restaurierten Version präsentiert wurde. Wesentliches Merkmal dieser Restaurierung ist die Entfernung einer Übermalung, die eine weiße Zimmerwand zeigte, im (restaurierten) Original aber das spätbarocke Bild eines Cupido, des römischen Gottes der körperlichen Liebe, aufweist. Während in den meisten Pressemeldungen über die Ausstellungseröffnung dieser Sachverhalt lediglich referiert wurde, setzten sich zwei Autoren (Andreas Kilb: Der Mensch, ein Ding unter Dingen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.9.2021 / www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/briefleserin-am-offenen-fenster-vermeer-in-dresden-17533489.html; Peter Richter: Liebes Gottchen. In: Süddeutsche Zeitung v. 11./12.9.2021, S. 17 / https://www.sueddeutsche.de/kultur/vermeer-dresdner-gemaeldegalerie-restauration-cupido-1.5406823) mit der Restaurierung gründlicher und grundsätzlicher auseinander. In diesen beiden Beiträgen scheinen Positionen auf, die gut dazu dienen können, das eingangs entfaltete Thema noch einmal und auf grundsätzlicher Ebene zu diskutieren.

Der F.A.Z.- Autor resümiert in seinem Artikel die Rezeptions- und Verkaufsgeschichte des Gemäldes und kommt in seiner Betrachtung der Restaurierung zu dem Schluss, dass „die Rückkehr des Cupido zugleich ein Verlust und ein Gewinn ist.“ Was der Verlust ist, verrät der Autor jedoch nicht bzw. kann nur zwischen den Zeilen erahnt werden. Umso deutlicher wird seine Darstellung des Gewinns. Denn nun könne man Vermeers „gelehrte(s) Spiel mit der antiken Allegorie“ und in der „Mehrdeutigkeit“ die sozialen Zwiespältigkeiten der Entstehungszeit, ja die Vorahnung einer neuen Zeit entdecken. Der Artikel endet mit dem seltsamen Resümee „… ein neues Licht floss in die Innenräume. Bei Vermeer kann man seinen Luftzug spüren.“

Abgesehen von der sprachlich schiefen Vermutung, Licht erzeuge einen Luftzug, ist recht eindeutig, was den Gewinn der Restaurierung ausmacht: Das Original-Bild (das aber auch schon bei Vermeer mehrere Überarbeitungen erfahren hatte; Anm. d. A.) verrät dem Kenner der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Niederlanden zur Mitte des 17. Jhs., dass man von Vermeer vermuten kann, dass er dies genauso sah. Die Restaurierung und damit Reinigung des Gemäldes von späteren Überarbeitungen bestätigt also das Vorwissen des Betrachters, er erweist sich als Experte und jegliche ästhetische Verunsicherung durch eine eventuelle unzeitgemäße Bildgestaltung kann unterbleiben. Reinheit garantiert die Apologie der Realitätswahrnehmung des Wissenden.

In gewisser Weise eine Gegenposition dazu nimmt der Artikel des SZ-Autors ein. Auch er spricht von Vor- und Nachteilen der Restaurierung. Auf der positiven Seite steht der Umstand, dass die Restaurierung in einer umfangreichen Vermeer-Ausstellung resultierte, und die nunmehr mögliche Einordnung Vermeers in die niederländische Kunstwelt als gar nicht so – wie bisher vermutet – modernen Künstler. Bezogen auf das Gemälde selbst fällt das Urteil jedoch eindeutig negativ aus.

Mit dem Cupido – so der Autor – „steht der zarten Briefleserin jetzt ein bauchiges Riesenbaby auf der Schulter und gibt ihrem Bild etwas entschieden Albtraumhaftes.“ Und das sei kein spezifisch modernes Urteil, sondern bereits im 18. Jh. so gesehen worden, weshalb der Cupido als „etwas penetrantes Barockemblem“ übermalt worden sei. Damit sei diese Korrektur „von mindestens dem Wert, den die Arbeit eines guten Lektors am Manuskript eines Autors hat, der seine Tinte nicht halten kann.“

Dieser Verriss betrifft nicht nur das Originalgemälde, sondern auch die Restaurierung: „Die Entscheidung zugunsten einer ’ursprünglichen Intention’ des Künstlers ist zwangsläufig eine gegen das überlieferte Gemälde mit all den Sedimenten seiner Rezeptionsgeschichte und hat natürlich etwas von dem immer ein wenig einfältigen Eifer derer, die etwa auch Bachs Kompositionen nur auf den Instrumenten seiner eigenen Epoche dulden, so als verdanke der sein musikalisches Überleben nicht wesentlich auch der Romantik.“

Entsprechend diesem Beispiel lässt sich eine ganze Palette ähnlicher „Originalitäts“- und „Reinheits“-Fantasien aufzählen. Da sind die Literatur-Puristen, die Buchverfilmungen daraufhin abklopfen, ob die ursprünglichen Inhalte und Intentionen eines Buches auch gewahrt bleiben; da sind die Cineasten, die eine dem Kommerz geschuldete Kino-Version eines Filmes dem reines Genie verströmenden Director’s Cut gegenüberstellen; und auch im Bereich der Musik bilden Demo-Tapes und charttaugliche Postproduktionen ebenso ein Gegensatzpaar wie ein Original-Musikstück und dessen durch Radio Edit kastrierte Aufführungspraxis. In all diesen und vielen weiteren Fällen geht es also einerseits um die reine Kunst, wie sie dem Wissenden offenbar ist, und der gefälligen, einem Massengeschmack dienenden Kommerzkunst andererseits.

Man kann das aber auch anders sehen: Bei diesen Kontroversen vertreten die Originalitäts- und Reinheitsfetischisten offensichtlich nicht irgendwelche Kunstwerke, sondern verteidigen ihr mühsam erworbenes und immer wieder auf dem Markt der Wichtigen zu verwertendes kulturelles Kapital. Das mag man goutieren oder nicht – mit der Qualität von Kunst hat es jedenfalls nichts zu tun.

Oder wie die britische Independent-Band „New Model Army“ bereits 1990 sang: „Purity is a lie.“

Liebe

Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.

Wie bitte?! Gibt es nicht eher viel zu viel Hass, Aggression, Missgunst und so weiter? Wie kann es da zu viel Liebe geben?

Gehen wir mal systematisch vor.

Traditionell, d. h. seit es überhaupt entsprechende Informationen gibt, war Liebe ein Element von Verwandtschaftsbeziehungen, oft begrenzt auf das Eltern-Kind-Verhältnis. Liebe war und ist eine überaus sinnvolle Komponente dieser Beziehungsform, bewahrt es doch das Kind davor, gleich nach der Geburt ertränkt zu werden, und verringert den Anreiz des Kindes, nach der Überschreibung etwa eines landwirtschaftlichen Betriebs die Eltern durch Nahrungsmittelentzug oder ähnliches möglichst schnell unter die Erde zu bringen, wie es bis ins 20. Jh. hinein nicht nur im Alpenraum weit verbreitet war. Nach der Erfindung des Monotheismus wurde außerdem die Gottesfurcht immer stärker um die Liebe zu Gott ergänzt, was insofern eine nur unwesentliche Innovation war, als dieser Gott nach dem Muster des Familienpatriarchen konstruiert war, so dass sich der Charakter der Liebe kaum veränderte.

Diese Jahrtausende währende Beschränkung von Liebe fand erst vor wenigen Jahrhunderten eine Erweiterung. Zum einen wurde die romantische Liebe erfunden, was für die Beteiligten zumindest anfänglich eine sehr schöne Neuerung war. Zum anderen entstand die Vaterlandsliebe, was aufgrund der damit verbundenen allgemeinen Wehrpflicht für die Beteiligten eher weniger schön war.

Verglichen mit diesen wenigen Ausformungen von Liebe ist heute eine wahre Inflation von Liebe festzustellen. Wenn eine bekannte Supermarktkette von sich behauptet, Lebensmittel zu lieben, ist das nur die Spitze des Eisbergs an Liebe. Denn zahlreiche Immobilienmakler und ‑verwalter bekunden ihre Liebe zu Immobilien, auch Tiere werden geliebt, Autos, Musik, Pfannkuchen und eigentlich alles. Aber nicht nur die Objekte der Liebe vermehren sich ins Beliebige, sondern auch die Subjekte. Eine besonders rätselhafte Form der Liebe ist die Liebe der Städte. So liebt dich etwa Offenburg, wie der gleichnamige Film der dortigen Stadtverwaltung verkündet, aber auch Pforzheim, was mit dem Kauf einer gleichnamigen Briefmarke beantwortet werden kann, oder Flensburg. Auch Sylt liebt dich; gemeint ist hier aber nicht die Insel, sondern ein Anbieter (Ehepaar mit Kind und Hund Greta) von drei Ferienwohnungen in Westerland. Und wenn Helene dich liebt, dann ist das die Aufforderung zum Besuch der Münchener Gaststätte dieses Namens. Der fleißigste Liebende, dessen Liebe von Webseiten, Autoaufklebern und Buchtiteln herunterbrüllt, ist übrigens Gott. Wie gesehen, befindet er sich in guter Gesellschaft.

Nun ist es wohl nicht zu verwegen, wenn man vermutet, dass die Liebe zu Lebensmitteln, Immobilien usw. nur eine Metapher für die Liebe zum Geld des Kunden ist und die Liebe der Städte ein besonderer Dreh des Stadtmarketings. Ebenfalls zum Marketing ist die Liebe Gottes zu zählen. Aber warum existiert diese Inflation an Liebe? Offensichtlich ist es einfacher und überzeugender, Liebe zu behaupten, als befriedigende Dienstleistungen zu erbringen. Dann könnte ein Supermarkt gute Waren in großer Vielfalt zu niedrigen Preisen anbieten, die Makler auf Extraprofite verzichten, die Städte ein anregendes und lebenswertes Ambiente schaffen und Gott dafür sorgen, dass es niemandem an etwas fehlt. All das passiert aber nicht; stattdessen werden wir mit Liebesbekundungen zugeschüttet. Wer davon etwas hat und wer nicht, dürfte offensichtlich sein.

Daher: Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.

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