Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 10 von 31)

Wissenschaft und Propaganda

In einem bemerkenswerten Interview (besser vielleicht: einer Wutrede) setzte sich Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, im Deutschlandfunk mit den antisemitischen Vorfällen auf der Kasseler Documenta 2022 auseinander (www.deutschlandfunk.de/schafstallgebloeke-der-kulturalisten-bazon-brock-ueber-die-documenta-dlf-c316cef2-100.html; abgerufen am 3.7.2022).

In seiner fundamentalen Kritik bezeichnete er diese Documenta als vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die aktuell die 600-jährige Geschichte der westlichen/europäischen Kunst zugunsten einer totalitären Kunstauffassung zu revidieren versuche. Dies geschehe dadurch, dass das diesjährige Documenta-Konzept, die künstlerische Repräsentation der Weltsicht des globalen Südens zu leisten, dazu führe, dass individuelle Kunstpraktiken durch kollektive, hier: National-Kulturen ersetzt werden, die ausschließlich daraus, dass sie diese Nationalkulturen repräsentieren, ihren künstlerischen Wert ziehen. Diese Nationalkulturen seien direkt eingebunden in die Herrschaftsformen totalitärer Regime wie etwa in China, Russland oder der Türkei.

Diese Überführung eines individuellen, von staatlicher Macht zumindest konzeptionell unabhängigen Kunstverständnisses in eine politikhörige Kollektivkultur sieht Brock parallel auch auf dem Feld der Wissenschaft gegeben, was er aber nicht weiter ausführt. Da dem Autor dieses Blogs die notwendige Kompetenz auf dem Feld der Kunst fehlt, soll im folgenden ein Blick auf die Wissenschaft gerichtet werden.

Rund eine Woche nach dem angeführten Interview (21.6.2022) fand etwas statt, das Bazon Brock auf dem Feld der Wissenschaft – sicher ungewollt – bestätigte, und zwar auf einer Diskussionsveranstaltung in Kassel (29.6.2022), die sich mit dem Documenta-Skandal beschäftigte. Dort beklagte sich nämlich die Dresdner Professorin Nikita Dhawan, „dass ihr Fach, das Studium postkolonialer Ideen, nun einen Ansehensverlust erlitten habe und unter Generalverdacht gestellt werde.“ (SZ v. 1.7.2022; S. 13)

Dies ist eine ebenso bemerkenswerte wie verräterische Stellungnahme. Denn üblicherweise ist es schon innerhalb der Wissenschaften herzlich egal, wenn in einer anderen Fachrichtung als der eigenen etwas falsch läuft; wenn etwa ein Archäologe seine Ergebnisse fälscht, dann führt das in der Physik lediglich zu einem Achselzucken. Noch viel mehr kann man eigentlich erwarten, dass Vorgänge im außerwissenschaftlichen Bereich, noch dazu auf einem so abseitigen Feld wie moderner Kunst, auf eine wissenschaftliche Disziplin ohne jede Auswirkung bleiben. Warum ist dies hier aber anders? Weil die aktuelle Documenta und die Wissenschaftsrichtung der „Postcolonial Studies“ über etwas Drittes miteinander verbunden sind, ja: sich als deren Hilfskräfte verstehen. Und das ist eine bestimmte politische Richtung, der sog. Postkolonialismus.

Mit ihm wiederholt sich etwas, das für viele Wissenschaften im 19. Jh. charakteristisch war, nämlich nicht einem Erkenntnisinteresse zu folgen, sondern in erster Linie einem politischen Zweck zu dienen: der Schaffung der Nationalstaaten und des Nationalismus. Dazu gehören etwa die Sprachwissenschaften, die über die Kodifizierung und Homogenisierung von Sprache eine einheitliche Nation schaffen wollten, oder die Geschichtswissenschaften, die die groß- und einzigartige Herrlichkeit der nationalen Vergangenheit beschworen, aber auch die Biologie mit ihren Rassetypen, um Herrschaftsansprüche und Überlegenheitspostulate zu unterfüttern.

Ganz ähnlich fantasiert sich der Postkolonialismus heroische Vergangenheiten zurecht, die durch den Kolonialismus zerstört worden seien und nun materiell und vor allem ideologisch zu kompensieren seien. Dies zielt weniger auf die tatsächliche Gestaltung aktueller wirtschaftlicher, politischer, kultureller oder gar wissenschaftlicher Beziehungen zwischen Organisationen oder Menschen unterschiedlicher Länder, sondern dient in erster Linie der Rückführung sozialer Ungleichheiten auf (ehemalige) Einflüsse fremdnationaler Mächte und damit der Immunisierung des Handelns nationaler (Gegen-)Eliten.

Dass im Skandalbild der Documenta als Ursache für soziale Probleme in Indonesien Juden identifiziert werden, die in diesem Land nur einige hundert Personen ausmachen, illustriert dieses Element des Postkolonialismus nur allzu deutlich. Und dass eine Wissenschaftlerin das größte Problem dieser „Kunst“ darin sieht, dass der Ruf ihrer Wissenschaftsrichtung dadurch beeinträchtigt werde, ist dann nur noch ein Witz. Über den man aber leider nicht lachen kann.

Schusswaffen

Heute soll es um das Schulmassaker im US-amerikanischen Uvalde und das, was man daraus lernen kann, gehen. Es reiht sich ein in eine ununterbrochene Reihe von Tötungen mit Schusswaffen, die zu den immergleichen Reaktionen führen: Aufrufe zum Gebet für die Opfer, Rufe nach strikteren Waffengesetzen und der harschen Gegenposition, man solle diese Anschläge nicht dazu nutzen, das geheiligte Recht auf Waffentragen einzuschränken. Dies ist so vorhersehbar wie ergebnislos. Vor allem trägt es genausowenig zu einem Begreifen der Situation bei wie Hinweise auf die Arbeit der Waffenlobby, psychologische Betrachtungen zum Täter oder gleich der Hinweis auf die zutiefst rätselhafte Mentalität der US-Amerikaner.

Mir scheint ein vertieftes Verständnis daran ansetzen zu können, wie amerikanische Schulen sich auf solche Ereignisse vorbereiten, nämlich wie aktuell an 95 % aller Schulen mit sog. Active Shooter Drills, denen die drei Leitvokabeln Run, Hide, Fight zugrundeliegen. Während Davonlaufen und sich Verstecken als naheliegende Verhaltensweisen beim Auftauchen eines bewaffneten Attentäters in einer Schule gelten können, ist fraglich, was die Aufforderung an Grundschüler, gegen den Angreifer zu kämpfen, bedeuten soll. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Weitere Besonderheiten, die hier zu beachten sind, sind der fortschreitende Ausbau der Schulen zu Festungen, dies sowohl in baulicher Hinsicht als auch durch den Einsatz bewaffneter Türsteher, und das zentrale Mantra der Waffenlobby, das da lautet: Das einzige, das einen bösen Mann mit einer Schusswaffe aufhält, ist ein guter Mann mit einer Schusswaffe.

Gerade dieser Satz kann helfen, ein wesentliches Element der Schusswaffenproblematik zu erkennen. Denn auf den ersten Blick klingt er ziemlich unsinnig, ist doch ein bewaffneter Angreifer grundsätzlich im Vorteil gegenüber seiner Zielperson. Diese kann – wenn sie nicht selbst attackiert – nur reagieren; und das ist in dem Fall, dass der Angreifer nicht völlig unfähig ist, üblicherweise nicht mehr möglich. Damit erweist sich schon aus der Situationslogik heraus das Gegenüber von bösem Angreifer und gutem Angegriffenen, der sich wehrt, als obsolet.

Tatsächlich gibt es jedoch eine Konstellation, in der dieser Satz einen Sinn ergibt und auch die anderen Vorkehrungen nicht mehr so abstrus erscheinen. Das ist dann der Fall, wenn nicht von zwei Beteiligten(gruppen) ausgegangen wird, sondern von drei. Dann gibt es nicht den bewaffneten Täter und das bewaffnete Opfer, sondern den bewaffneten Täter, das Opfer und eine dritte Partei, die bewaffnet ist und gegen den Täter einen Zweitschlag ausführt. Nun dient der festungsartige Ausbau von Schulen dazu, die Opferzahl möglichst gering zu halten, bis die Polizei oder andere Bewaffnete eintreffen und den Täter ausschalten. Und auch der anfänglich rätselhafte Teil der Active Shooter Drills, die Grundschüler sollten – sofern sie nicht davonlaufen oder sich verstecken können – „kämpfen“, was man sich als Einsatz von Bastelscheren oder Buntstiften gegen eine Person mit Sturmgewehr vorstellen muss, wird plötzlich verständlich: diese Grundschüler opfern sich, um dem bewaffneten Gegenangriff Zeit zu geben, sich zu formieren oder überhaupt erst vor Ort zu gelangen.

Damit erweist sich die Schusswaffenproblematik in den USA nicht in erster Linie als ein Frage von Verfügbarkeiten usw., sondern vielmehr als Ausdruck eines Gesellschaftsverständnisses, das sich in einem permanenten Kriegszustand wähnt, mit Angreifern, Zivilisten/Opfern und Verteidigern. In dieser Situation eines imaginierten (Bürger-)Kriegs sind Beschränkungen des Waffenbesitzes tatsächlich widersinnig, die Bewaffnung weitet sich weiter aus, aus der Imagination wird Realität. Und ein Konzept wie das staatliche Gewaltmonopol wird zum Synonym von Kapitulation vor dem Feind.

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