Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Autor: Redaktion (Seite 10 von 31)

Dimensionen

Wenn man nicht auf Science-Fiction-Autoren und theoretische Physiker hört, besteht unsere Lebenswelt aus vier Dimensionen: Länge, Breite, Höhe und Zeit. Mit diesen vier Dimensionen kann jedes Objekt außerhalb der Quantenphysik eindeutig lokalisiert werden. Auch wenn das banal erscheint, hat es doch weitreichende Konsequenzen. Im folgenden soll aber nur ein Aspekt betrachtet werden, nämlich die Bedeutung der Zeit.

Eines der grundlegenden Prinzipien der klassischen Physik lautet actio = reactio und ist als das dritte Newton’sche Gesetz bekannt. Man kann es manchmal im Physikunterricht erleben, wenn der Lehrer zwei Schüler auf jeweils einem Rollbrett einander gegenüberstellt und einen der beiden Schüler auffordert, den anderen wegzuschieben, was dann dazu führt, dass sich der Schiebende in die Gegenrichtung bewegt – ein Effekt, der im selben Umfang auftritt, wenn der andere Schüler zu schieben beginnt. Physikalisch macht es also keinen Unterschied, von welchem Objekt die Kraft auf ein anderes ausgeübt wird; dieselbe Kraft wirkt auf dieses Objekt zurück. Insofern ist der Scherz, dass dann, wenn jemand gegen einen Baum gefahren ist, gesagt wird, ihm sei dieser Baum in den Weg gesprungen, insofern eine realistische Darstellung, als es physikalisch zu demselben Ergebnis geführt hat.

Diese simple Gleichstellung von Kraft und Gegenkraft verliert ihre Eindeutigkeit, wenn die Dimension der Zeit hinzugefügt wird. Tatsächlich ereignen sich die Auswirkungen einer Handlung nie mit dieser gleichzeitig, sondern immer mit einer – manchmal nur minimalen – Verzögerung. Ein Beispiel ist etwa das in manchen Weltgegenden übliche Abfeuern von Gewehren bei Trauer- oder Freudenkundgebungen. Wird ein Schuss senkrecht in die Luft abgefeuert, kann es passieren, dass die Kugel den Schützen bei der Rückkehr zur Erde unsanft daran erinnert, dass Kräfte nicht im nirgendwo verschwinden, sondern auch eine Wirkung haben können – hier: den Schützen verletzen. Zugleich aber kann der Faktor Zeit dazu führen, dass der Schütze seinen Platz bei der Rückkehr der Kugel bereits verlassen hat und diese nun eine andere Person trifft. Hier zeigt sich dann auch ein zweiter Aspekt von Zeit: Während im Beispiel der Schiebenden auf den Rollbrettern völlig unerheblich ist, wer das Schieben unternimmt, es also keine Bevorzugung einer bestimmten Richtung der Druckausübung gibt, läuft die Zeit immer nur in eine Richtung: von früher nach später.

Es gibt jedoch eine Möglichkeit, die Richtung des Zeitpfeils zu überlisten; diese Möglichkeit ist das Wissen um die Auswirkungen des Handelns. Entsprechend der eigenen Ziele, d. h. dessen, was als zukünftiges Resultat des Handelns gewünscht ist, kann gehandelt werden und damit die Zukunft zum Entscheidungsgrund für das Handeln werden, mithin zugleich Vergangenheit (= Entscheidung), Gegenwart (= Handeln) und Zukunft (= Resultat) sein.

Bereits Tiere verfügen über solch ein Wissen, wenn sie etwa Methoden einüben, um besser Beute zu machen. Auch Kinder lernen recht schnell, die Effekte bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und diese Erkenntnis dann zielgerichtet einzusetzen. Damit geht aber einher, dass die Zeit auch einem Qualitätswandel unterliegt. Dies zeigt sich darin, dass je größer die Zeiträume sind, die zwischen Handeln und Resultaten liege, desto stärker sinkt die Bereitschaft, die Zukunft in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen. Gerade wenn Handlungseffekte nicht mehr persönlich erlebt werden können, bedarf es neben dem bloßen Wissen um die Zukunft auch der Bereitschaft, dieses Wissen praktisch umzusetzen. Das nennt man dann Verantwortung – eine Eigenschaft, die nicht nur erlernt, sondern üblicherweise auch gegen diejenigen durchgesetzt werden muss, die ihren kurzfristigen Nutzen für wichtiger halten als den langfristigen Schaden der anderen.

Und dies kann dann Dimensionen erreichen, die weit über die bekannten vier hinausreichen.

Wissenschaft und Propaganda

In einem bemerkenswerten Interview (besser vielleicht: einer Wutrede) setzte sich Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, im Deutschlandfunk mit den antisemitischen Vorfällen auf der Kasseler Documenta 2022 auseinander (www.deutschlandfunk.de/schafstallgebloeke-der-kulturalisten-bazon-brock-ueber-die-documenta-dlf-c316cef2-100.html; abgerufen am 3.7.2022).

In seiner fundamentalen Kritik bezeichnete er diese Documenta als vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die aktuell die 600-jährige Geschichte der westlichen/europäischen Kunst zugunsten einer totalitären Kunstauffassung zu revidieren versuche. Dies geschehe dadurch, dass das diesjährige Documenta-Konzept, die künstlerische Repräsentation der Weltsicht des globalen Südens zu leisten, dazu führe, dass individuelle Kunstpraktiken durch kollektive, hier: National-Kulturen ersetzt werden, die ausschließlich daraus, dass sie diese Nationalkulturen repräsentieren, ihren künstlerischen Wert ziehen. Diese Nationalkulturen seien direkt eingebunden in die Herrschaftsformen totalitärer Regime wie etwa in China, Russland oder der Türkei.

Diese Überführung eines individuellen, von staatlicher Macht zumindest konzeptionell unabhängigen Kunstverständnisses in eine politikhörige Kollektivkultur sieht Brock parallel auch auf dem Feld der Wissenschaft gegeben, was er aber nicht weiter ausführt. Da dem Autor dieses Blogs die notwendige Kompetenz auf dem Feld der Kunst fehlt, soll im folgenden ein Blick auf die Wissenschaft gerichtet werden.

Rund eine Woche nach dem angeführten Interview (21.6.2022) fand etwas statt, das Bazon Brock auf dem Feld der Wissenschaft – sicher ungewollt – bestätigte, und zwar auf einer Diskussionsveranstaltung in Kassel (29.6.2022), die sich mit dem Documenta-Skandal beschäftigte. Dort beklagte sich nämlich die Dresdner Professorin Nikita Dhawan, „dass ihr Fach, das Studium postkolonialer Ideen, nun einen Ansehensverlust erlitten habe und unter Generalverdacht gestellt werde.“ (SZ v. 1.7.2022; S. 13)

Dies ist eine ebenso bemerkenswerte wie verräterische Stellungnahme. Denn üblicherweise ist es schon innerhalb der Wissenschaften herzlich egal, wenn in einer anderen Fachrichtung als der eigenen etwas falsch läuft; wenn etwa ein Archäologe seine Ergebnisse fälscht, dann führt das in der Physik lediglich zu einem Achselzucken. Noch viel mehr kann man eigentlich erwarten, dass Vorgänge im außerwissenschaftlichen Bereich, noch dazu auf einem so abseitigen Feld wie moderner Kunst, auf eine wissenschaftliche Disziplin ohne jede Auswirkung bleiben. Warum ist dies hier aber anders? Weil die aktuelle Documenta und die Wissenschaftsrichtung der „Postcolonial Studies“ über etwas Drittes miteinander verbunden sind, ja: sich als deren Hilfskräfte verstehen. Und das ist eine bestimmte politische Richtung, der sog. Postkolonialismus.

Mit ihm wiederholt sich etwas, das für viele Wissenschaften im 19. Jh. charakteristisch war, nämlich nicht einem Erkenntnisinteresse zu folgen, sondern in erster Linie einem politischen Zweck zu dienen: der Schaffung der Nationalstaaten und des Nationalismus. Dazu gehören etwa die Sprachwissenschaften, die über die Kodifizierung und Homogenisierung von Sprache eine einheitliche Nation schaffen wollten, oder die Geschichtswissenschaften, die die groß- und einzigartige Herrlichkeit der nationalen Vergangenheit beschworen, aber auch die Biologie mit ihren Rassetypen, um Herrschaftsansprüche und Überlegenheitspostulate zu unterfüttern.

Ganz ähnlich fantasiert sich der Postkolonialismus heroische Vergangenheiten zurecht, die durch den Kolonialismus zerstört worden seien und nun materiell und vor allem ideologisch zu kompensieren seien. Dies zielt weniger auf die tatsächliche Gestaltung aktueller wirtschaftlicher, politischer, kultureller oder gar wissenschaftlicher Beziehungen zwischen Organisationen oder Menschen unterschiedlicher Länder, sondern dient in erster Linie der Rückführung sozialer Ungleichheiten auf (ehemalige) Einflüsse fremdnationaler Mächte und damit der Immunisierung des Handelns nationaler (Gegen-)Eliten.

Dass im Skandalbild der Documenta als Ursache für soziale Probleme in Indonesien Juden identifiziert werden, die in diesem Land nur einige hundert Personen ausmachen, illustriert dieses Element des Postkolonialismus nur allzu deutlich. Und dass eine Wissenschaftlerin das größte Problem dieser „Kunst“ darin sieht, dass der Ruf ihrer Wissenschaftsrichtung dadurch beeinträchtigt werde, ist dann nur noch ein Witz. Über den man aber leider nicht lachen kann.

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