In meiner Kindheit war es ein sonntäglich wiederkehrendes Ritual, meine Großmutter zum Mittagessen zu besuchen. Meine Erinnerung daran hat zwei Elemente: die reichlich dünne Suppe und die Angewohnheit meiner Großmutter, anlass- und zusammenhangslos Sprüche aus dem Katechismus von sich zu geben. Die meisten davon waren mir reichlich unverständlich; am seltsamsten aber klang ein Satz, den ich mir wahrscheinlich ebendeshalb gemerkt habe: „Bleibe im Lande und nähre dich redlich.“
Dieser Spruch aus Psalm 37 stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Migration und moralisch oder gar juristisch zweifelhaftem Handeln her. Migration wird hier direkt mit sozial unerwünschtem Verhalten kombiniert; wer migriert, ist unausweichlich dem Verdacht ausgesetzt, dass dies mit „Unredlichkeit“ verbunden ist.
Die Anbindung von Migration an negativ beurteilte Verhaltensweisen, wie sie aktuell durch die einschlägigen Medien geistert, ist also Jahrtausende alt und kann immer wieder für bestimmte Zwecke nutzbar gemacht werden. Die Bewertung von Migration kann sich deshalb aber auch schnell ändern – eben in Abhängigkeit von der Rolle, die sie in einer bestimmten Gesellschaft in der jeweiligen Zeit spielt.
Aktuell dominiert ganz offensichtlich ein Blick auf Migration, der zwei Elemente aufweist: es geht um Migration von woanders her und Migration als negatives Phänomen. Kurz: Die Fremden kommen hierher und stören oder sind gar gefährlich.
Weniger häufig wird Migration zur Zeit als Emigration betrachtet, und wenn, dann als Perspektive des Verschwindens der unerwünschten Fremden (im rechtsradikalen Duktus: Remigration). Tatsächlich aber, und das ist auch ein Element des zitierten Spruchs, ist Abwanderung ein sozial ebenso belastender wie negativ konnotierter Vorgang. Insofern ist der Befund der Fremdenfeinde etwa im ländlichen Raum Ostdeutschlands nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es dort immer mehr Ausländer gäbe; denn die junge, gut ausgebildete Bevölkerung verlässt den Heimatort und erhöht dadurch das Gewicht der verbliebenen zwei oder drei Fremden.
Der wahre Kern des Problems liegt aber hinter der allzu grell getünchten Fassade der Zu- oder Abnahme einzelner Bevölkerungsgruppen. Denn Migration führt oft zu einer gravierenden Umschichtung sozialer Hierarchien. Auch und insbesondere bei der Abwanderung verlieren die traditionell dominierenden Gruppen oder Personen den Zugriff auf die Objekte ihres Herrschaftsanspruchs. Insofern signalisiert die mittelalterliche Parole „Stadtluft macht frei“ auch aktuell den Verlust von Zugriffsmöglichkeiten auf andere.
Und so kann es nicht verwundern, dass etwa die Kritische Theorie in Person von Th. W. Adorno sich schärfstens gegen Philosophen wie Heidegger oder Jaspers wendet, die in der umstandslosen, ja apologetischen Einbindung in die traditionellen Gesellschaftsstrukturen die Verwirklichung sowohl von „Heimat“ als auch von Mensch-Sein an sich sehen, während Migration ebendies verunmöglicht und unausweichlich mit dem Makel des Anrüchigen versehen ist.
Dass dann das „Bleiben im Lande“ nicht nur als einzig akzeptable Lösung propagiert wird, sondern auch als Synonym von „Redlichkeit“ erscheint, ist so nicht weiter erstaunlich. Nicht zuletzt kommt einem die Suppe dann gleich gar nicht mehr so dünn vor.
Schreibe einen Kommentar