Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.
Wie bitte?! Gibt es nicht eher viel zu viel Hass, Aggression, Missgunst und so weiter? Wie kann es da zu viel Liebe geben?
Gehen wir mal systematisch vor.
Traditionell, d. h. seit es überhaupt entsprechende Informationen gibt, war Liebe ein Element von Verwandtschaftsbeziehungen, oft begrenzt auf das Eltern-Kind-Verhältnis. Liebe war und ist eine überaus sinnvolle Komponente dieser Beziehungsform, bewahrt es doch das Kind davor, gleich nach der Geburt ertränkt zu werden, und verringert den Anreiz des Kindes, nach der Überschreibung etwa eines landwirtschaftlichen Betriebs die Eltern durch Nahrungsmittelentzug oder ähnliches möglichst schnell unter die Erde zu bringen, wie es bis ins 20. Jh. hinein nicht nur im Alpenraum weit verbreitet war. Nach der Erfindung des Monotheismus wurde außerdem die Gottesfurcht immer stärker um die Liebe zu Gott ergänzt, was insofern eine nur unwesentliche Innovation war, als dieser Gott nach dem Muster des Familienpatriarchen konstruiert war, so dass sich der Charakter der Liebe kaum veränderte.
Diese Jahrtausende währende Beschränkung von Liebe fand erst vor wenigen Jahrhunderten eine Erweiterung. Zum einen wurde die romantische Liebe erfunden, was für die Beteiligten zumindest anfänglich eine sehr schöne Neuerung war. Zum anderen entstand die Vaterlandsliebe, was aufgrund der damit verbundenen allgemeinen Wehrpflicht für die Beteiligten eher weniger schön war.
Verglichen mit diesen wenigen Ausformungen von Liebe ist heute eine wahre Inflation von Liebe festzustellen. Wenn eine bekannte Supermarktkette von sich behauptet, Lebensmittel zu lieben, ist das nur die Spitze des Eisbergs an Liebe. Denn zahlreiche Immobilienmakler und ‑verwalter bekunden ihre Liebe zu Immobilien, auch Tiere werden geliebt, Autos, Musik, Pfannkuchen und eigentlich alles. Aber nicht nur die Objekte der Liebe vermehren sich ins Beliebige, sondern auch die Subjekte. Eine besonders rätselhafte Form der Liebe ist die Liebe der Städte. So liebt dich etwa Offenburg, wie der gleichnamige Film der dortigen Stadtverwaltung verkündet, aber auch Pforzheim, was mit dem Kauf einer gleichnamigen Briefmarke beantwortet werden kann, oder Flensburg. Auch Sylt liebt dich; gemeint ist hier aber nicht die Insel, sondern ein Anbieter (Ehepaar mit Kind und Hund Greta) von drei Ferienwohnungen in Westerland. Und wenn Helene dich liebt, dann ist das die Aufforderung zum Besuch der Münchener Gaststätte dieses Namens. Der fleißigste Liebende, dessen Liebe von Webseiten, Autoaufklebern und Buchtiteln herunterbrüllt, ist übrigens Gott. Wie gesehen, befindet er sich in guter Gesellschaft.
Nun ist es wohl nicht zu verwegen, wenn man vermutet, dass die Liebe zu Lebensmitteln, Immobilien usw. nur eine Metapher für die Liebe zum Geld des Kunden ist und die Liebe der Städte ein besonderer Dreh des Stadtmarketings. Ebenfalls zum Marketing ist die Liebe Gottes zu zählen. Aber warum existiert diese Inflation an Liebe? Offensichtlich ist es einfacher und überzeugender, Liebe zu behaupten, als befriedigende Dienstleistungen zu erbringen. Dann könnte ein Supermarkt gute Waren in großer Vielfalt zu niedrigen Preisen anbieten, die Makler auf Extraprofite verzichten, die Städte ein anregendes und lebenswertes Ambiente schaffen und Gott dafür sorgen, dass es niemandem an etwas fehlt. All das passiert aber nicht; stattdessen werden wir mit Liebesbekundungen zugeschüttet. Wer davon etwas hat und wer nicht, dürfte offensichtlich sein.
Daher: Es gibt zu viel Liebe auf der Welt.
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