Vor kurzem fiel mir ein Artikel über eine Wasserpumpe im Londoner Stadtteil Soho und deren Bedeutung für die Verbreitung der Cholera im 19. Jahrhundert auf. Der dort geschilderte Umgang mit Krankheiten weicht von heutigen Entwicklungen stark ab, so dass ein paar Anmerkungen angemessen scheinen. Doch gehen wir der Reihe nach vor:
Im 19. Jahrhundert kam es in London immer wieder zu Ausbrüchen der Cholera mit zahlreichen Todesfällen. Die vorherrschende Erklärung sah die Ursache in einem schädlichen Miasma, d. h. giftiger Luft, die zu der Krankheit führe. Als es 1854 wieder zu einem Cholera-Ausbruch mit mehr als 700 Toten allein in der Umgebung der Broad Street (heute: Broadwick Street) kommt, identifiziert der Arzt John Snow auf der Grundlage epidemiologischer Befunde das Trinkwasser der öffentlichen Pumpe in dieser Straße als Ursache der Krankheit – all das 20 Jahre vor der Entdeckung der Bakterien. Am Abend des 7. September 1854 überzeugt er die lokalen Behörden davon, die Pumpe stillzulegen; diese demontieren am folgenden Tag den Pumpenschwengel und beenden damit die Ära der katastrophalen Choleraepidemien in London. Die Entfernung des Pumpenschwengels gilt seither als eine der wichtigsten medizinischen Leistungen aller Zeiten.
Betrachtet man diese Vorgänge im Lichte der heutigen Debatten über Gesundheitspolitik etwa in der Frage des Impfens, lassen sich mindestens drei Positionen identifizieren, die als Alternative zum Handeln von John Snow verstanden werden könnten und deshalb von mir ins 19. Jahrhundert transferiert werden.
Zunächst sind da die Vorkämpfer der Freiwilligkeit (aktuell vor allem CDU, AfD und FDP, aber auch manche Gesundheitsexperten), die vor Zwangsmaßnahmen warnen und die Wahlfreiheit der Menschen propagieren. Deshalb müsse es ausreichen, die Menschen über das verseuchte Trinkwasser zu informieren, die Stilllegung der Pumpe sei ein übermäßiger Eingriff in die Freiheit der Menschen und obendrein kontraproduktiv, weil er nur dazu führe, dass es zu Trotzreaktionen und damit zu vermehrter Nutzung der Pumpe käme.
Eine zweite Gruppe könnten die Vertreter von alternativmedizinischen Ansätzen sein, die etwa durchfallauslösende und entwässernde Stoffe in hochprozentiger und gründlich verschüttelter Verdünnung (hier am Beispiel homöopathischer Präparate durchgespielt) verabreichen und nach der allgegenwärtigen Erstverschlimmerung die sanfte Heilung versprechen. Ein kleines Problem wäre dann nur noch, dass die Erstverschlimmerung der Cholera im Regelfall zum sofortigen Tode führt.
Die dritte Variante bieten diejenigen Personen, die der Meinung sind, dass eine Infektion das Immunsystem stärke und deshalb die Krankheit nicht nur weiter existieren solle, sondern dass man sich sogar aktiv um ihre Verbreitung bemühen solle. Es finden deshalb an der Pumpe regelrechte Cholera-Parties statt, auf denen sich die Menschen mit dem Wasser zuprosten (dies in Analogie zu Masern-Parties in Berlin und anderswo).
Allen drei – nur geringfügig überzeichneten – Positionen ist ein Merkmal gemeinsam, das sie fundamental von derjenigen des John Snow unterscheidet. Gesundheit ist heute eine individuelle Aufgabe, der man sich mittels der entsprechenden Lebensführung und der Wahl der Behandlung von Krankheiten selbst zu widmen habe. Wer krank ist, ist selber schuld, weil er falsche Entscheidungen getroffen hat. Wie anders ist da das Vorgehen des John Snow, in dessen Zentrum die Frage des Gemeinwohls und damit auch die bewusste Missachtung von Einzelinteressen und ‑empfindlichkeiten steht. Es gibt noch so viele Pumpenschwengel, die demontiert werden müssten.
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