Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Mit diesen Zeilen beginnt das 1905 veröffentlichte Spottgedicht „Der Gesang der Vegetarier“ des 1878 geborenen anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam. Er kommentiert damit seine Erfahrungen in einer 1900 gegründeten Veganer-, später Vegetariergemeinschaft auf einem Hügel nahe des schweizerischen Ancona. Die „vegetabile Cooperative“ benannte den Hügel in „Monte Verità“ um und dokumentierte damit ihre Absicht, ein „wahrhaftiges“ Leben führen zu wollen; sie stellte sich damit explizit gegen die industrielle Gesellschaft und die darin existierende Lebensformen und war der wohl radikalste Ableger der im späten 19. Jahrhundert entstandenen Lebensreformbewegung. Auch Mühsam schloss sich für kurze Zeit der Gemeinschaft an.
Das eskapistische Leben auf dem Monte Verità war für eine politisch wache Persönlichkeit wie Mühsam jedoch nur kurze Zeit erträglich; daher verließ er die „Cooperative“ schnell wieder und arbeitete als Schriftsteller und Herausgeber in München, wo er eine wichtige Rolle bei der Gründung der Münchener Räterepublik 1919 einnahm. Nach deren Zerschlagung durch die SPD-geführte Reichswehr und rechtsradikale Freikorps und anschließender fünfjähriger Festungshaft ging er nach Berlin, wo er schriftstellerisch und politisch weiter aktiv war. Im Jahre 1934 wurde er im KZ Oranienburg ermordet.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh – das ist ebenso.
Mittlerweile ist der Monte Verità in der Ebene angekommen, d. h. die Ansicht, Veganer- oder Vegetariertum hätte etwas mit einem „wahrhaftigen“ Leben zu tun, hat sich in den letzten Jahren immer weiter verbreitet und zumindest in bildungsbürgerlichen Kreisen den Mainstream erreicht. Dass es sich dabei nicht in erster Linie um eine ganz und gar individuelle Haltung – im Sinne von: Ich mag halt kein Fleisch (es soll ja auch Menschen geben, die Brokkoli oder Kürbis nicht mögen) – handelt, zeigt der fast euphorische Bericht über einen veganen Brunch in einer Münchener Gaststätte in der Süddeutschen Zeitung vom 29.1.2019; die Autorin hebt nicht nur das üppige Büffet hervor, sondern zitiert auch dessen Leitmotiv, das auf einer Tafel zu lesen ist: „Be the change that you want to see in the world“.
(Quelle: www.sueddeutsche.de/muenchen/brunch-vegan-westend-bodhi-fruehstueck-1.4278036)
Dieser Satz kann wohl als Variante des bekannten Kant‘schen Kategorischen Imperativs interpretiert werden, der als ethische Richtschnur für eigenes Handeln das Prinzip benennt, dass dieses dann auch als Richtschnur für das Handeln aller anderen gelten können müsse. Man unterstellt den Restaurantbetreibern wie der Autorin sicherlich nicht zu Unrecht, dass der geforderte „Change“ sich nicht darauf bezieht, dass für alle Menschen üppige Büffets zum Alltag gehören sollten, sondern dass von veganer Ernährung auf globaler Ebene die Rede ist. Aus dieser Sicht müsste die folgende Abbildung auf großen Beifall stoßen.
(Quelle: www.presseportal.de/pm/50116/3606919)
Das haben die Leute jetzt davon – hätten sie nur die Rohstoffe für das Münchener Büffet angebaut! In den Elendsregionen dieser Welt kann der vegane Anspruch auf Weltverbesserung nur als Zynismus verstanden werden. Vielleicht ist das zumindest dumpfe Ahnen eines solchen Zusammenhangs auch der Grund dafür, dass in Veganer-Kreisen die Ernährungsprobleme der sog. Dritten Welt und die Frage, inwieweit dies mit der Vorliebe von Menschen in den reichen Ländern etwa für Avocados oder Sojaprodukte zusammenhängt, auf eher geringes Interesse stößt. Oder wie es Mühsam ausdrückte:
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeissen wir euch eine Walnuss an den Kopf.
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