Vielleicht kann man aktuelle Auseinandersetzungen am besten charakterisieren, wenn man untersucht, welche Rolle die Erzeugung, Markierung und Hervorhebung von Differenz spielt. Und inwieweit die Ablehnung von Differenz als Merkmal von Zivilisation anzusehen ist.
Aus dieser Sicht erscheint es fast wie ein Blick in eine anderen Epoche, dass der Slogan „je suis Charlie“ („ich bin/folge Charlie“) als Reaktion auf den mörderischen Anschlag islamistischer Attentäter auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ in Paris (2015) weltweite Verbreitung fand. In diesem Moment fanden sich Menschen zusammen, um sich als Menschen mit dem Recht auf Leben zu artikulieren, unter Hintanstellung von Unterschieden in politischen Einstellungen, kultureller Prägung und sonstigen Merkmalen. Dieses Absehen von Differenzen durch die Bezugnahme auf das gemeinsame Mensch-Sein war und ist die Conditio Humana seit der Aufklärung.
Wenn es da nicht Leute gäbe, für die Mensch-Sein nicht an erster Stelle steht. Selbstverständlich gehörten dazu die üblichen Verdächtigen wie die (französischen) Rechtsradikalen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Interessanter war und ist die Position nicht nur der Muslime, sondern auch z. B. der katholischen Kirche, die einen Spagat zwischen Humanismus und Religion herbeidefinierten und sich auf keine der beiden Seiten stellen wollten, was insofern völlig nachvollziehbar ist, als die Existenz von Menschen genauso unklar, ja fiktiv ist wie die von Göttern. Rätselhaft ist hier lediglich, dass kein Gott eingriff, um die Lästerer von Charlie Hebdo zu bestrafen; aber wahrscheinlich war es ihm einfach egal.
Wenn man also die Personen und Organisationen etwas zweifelhafter Grundeinstellung beiseite lässt, so konnte doch von einer Gemeinsamkeit zivilisierter Menschen gesprochen werden. Leider hat sich das mittlerweile in gewissem Maße als Irrtum herausgestellt. Dies hat in seiner überwältigenden Hellsichtigkeit bereits der Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ vorhergesehen, als in der Schlussszene ein jüdischer Gekreuzigter, als er hört, dass ein neben ihm Gekreuzigter Samariter ist, sich bei den Soldaten folgendermaßen beschwert: „Nach den Statuten des römischen Besatzungsrechts haben wir ein Recht darauf, nach Stämmen geordnet gekreuzigt zu werden.“
Noch in der ausweglosesten Situation die Differenz zu anderen hochzuhalten, war auch ein Merkmal der politischen Gefangenen in den NS-KZs, die sich als besser vorkamen als andere Häftlinge. Damit ist nun das zentrale Merkmal der Differenzbildung benannt: Differenz bedeutet immer Hierarchie, bedeutet nicht nur die Festschreibung von Unterschieden, sondern auch und insbesondere von deren Wertigkeit. Wenn man sich ansieht, wer heute alles als „anders“ wertgeschätzt werden will, ist klar, dass es um Hierarchien, um Differenzbildung zur Schaffung von Abstufungen geht.
Nun könnte man einwenden, dass es doch jedem selbst überlassen bleiben soll, als in welchem Ausmaß höherwertig er sich einschätzt; aber leider bleibt das nicht im privaten Bereich, sondern dringt in den öffentlichen Diskurs ein. Und auch der Einwand, dass Differenzierungen ja von vielen ihrer Protagonisten als wertneutral, als nicht-hierarchisch verstanden werden, ist leider bloße Augenwischerei. Denn unabhängig vom Wollen einzelner Personen haben Differenzierungen die unvermeidliche Tendenz, sich in Hierarchien zu verwandeln, was schon ein Blick auf die eher nebensächliche Differenz zwischen Sportvereinen bzw. deren Fans oder zwischen Musikfreunden zeigt.
Nicht zuletzt haben solche Differenzierungen auch die Eigenschaft, von interessierten Kräften naturalisiert, also als mit den einzelnen Personen untrennbar verbunden angesehen zu werden. So verweigerte Hans Globke, der spätere Staatssekretär von Konrad Adenauer, des ersten deutschen Bundeskanzlers, schon 1932 christlich getauften Juden die Änderung des Familiennamens, da ein Jude als solcher erkennbar bleiben solle und eine Namensänderung die „blutmäßige Abstammung“ verschleiere. Und wenn aktuell deutsche Rechtsradikale „Ausländer“ vertreiben wollen,dann sind letztere das ebenfalls „blutmäßig“, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.
Differenzbildung ist damit unauflöslich mit demokratie- und zivilisationsfeindlichen Bestrebungen verbunden. Deshalb ist es an der Zeit, auch aktiv gegen jede Art von Differenzbildung vorzugehen. Denn dahinter verbirgt sich mittlerweile nur noch wenig versteckt das mörderische Antlitz der Barbarei.
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