Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Monat: Januar 2024

Differenz

Vielleicht kann man aktuelle Auseinandersetzungen am besten charakterisieren, wenn man untersucht, welche Rolle die Erzeugung, Markierung und Hervorhebung von Differenz spielt. Und inwieweit die Ablehnung von Differenz als Merkmal von Zivilisation anzusehen ist.

Aus dieser Sicht erscheint es fast wie ein Blick in eine anderen Epoche, dass der Slogan „je suis Charlie“ („ich bin/folge Charlie“) als Reaktion auf den mörderischen Anschlag islamistischer Attentäter auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ in Paris (2015) weltweite Verbreitung fand. In diesem Moment fanden sich Menschen zusammen, um sich als Menschen mit dem Recht auf Leben zu artikulieren, unter Hintanstellung von Unterschieden in politischen Einstellungen, kultureller Prägung und sonstigen Merkmalen. Dieses Absehen von Differenzen durch die Bezugnahme auf das gemeinsame Mensch-Sein war und ist die Conditio Humana seit der Aufklärung.

Wenn es da nicht Leute gäbe, für die Mensch-Sein nicht an erster Stelle steht. Selbstverständlich gehörten dazu die üblichen Verdächtigen wie die (französischen) Rechtsradikalen, aber das war nicht weiter verwunderlich. Interessanter war und ist die Position nicht nur der Muslime, sondern auch z. B. der katholischen Kirche, die einen Spagat zwischen Humanismus und Religion herbeidefinierten und sich auf keine der beiden Seiten stellen wollten, was insofern völlig nachvollziehbar ist, als die Existenz von Menschen genauso unklar, ja fiktiv ist wie die von Göttern. Rätselhaft ist hier lediglich, dass kein Gott eingriff, um die Lästerer von Charlie Hebdo zu bestrafen; aber wahrscheinlich war es ihm einfach egal.

Wenn man also die Personen und Organisationen etwas zweifelhafter Grundeinstellung beiseite lässt, so konnte doch von einer Gemeinsamkeit zivilisierter Menschen gesprochen werden. Leider hat sich das mittlerweile in gewissem Maße als Irrtum herausgestellt. Dies hat in seiner überwältigenden Hellsichtigkeit bereits der Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ vorhergesehen, als in der Schlussszene ein jüdischer Gekreuzigter, als er hört, dass ein neben ihm Gekreuzigter Samariter ist, sich bei den Soldaten folgendermaßen beschwert: „Nach den Statuten des römischen Besatzungsrechts haben wir ein Recht darauf, nach Stämmen geordnet gekreuzigt zu werden.“

Noch in der ausweglosesten Situation die Differenz zu anderen hochzuhalten, war auch ein Merkmal der politischen Gefangenen in den NS-KZs, die sich als besser vorkamen als andere Häftlinge. Damit ist nun das zentrale Merkmal der Differenzbildung benannt: Differenz bedeutet immer Hierarchie, bedeutet nicht nur die Festschreibung von Unterschieden, sondern auch und insbesondere von deren Wertigkeit. Wenn man sich ansieht, wer heute alles als „anders“ wertgeschätzt werden will, ist klar, dass es um Hierarchien, um Differenzbildung zur Schaffung von Abstufungen geht.

Nun könnte man einwenden, dass es doch jedem selbst überlassen bleiben soll, als in welchem Ausmaß höherwertig er sich einschätzt; aber leider bleibt das nicht im privaten Bereich, sondern dringt in den öffentlichen Diskurs ein. Und auch der Einwand, dass Differenzierungen ja von vielen ihrer Protagonisten als wertneutral, als nicht-hierarchisch verstanden werden, ist leider bloße Augenwischerei. Denn unabhängig vom Wollen einzelner Personen haben Differenzierungen die unvermeidliche Tendenz, sich in Hierarchien zu verwandeln, was schon ein Blick auf die eher nebensächliche Differenz zwischen Sportvereinen bzw. deren Fans oder zwischen Musikfreunden zeigt.

Nicht zuletzt haben solche Differenzierungen auch die Eigenschaft, von interessierten Kräften naturalisiert, also als mit den einzelnen Personen untrennbar verbunden angesehen zu werden. So verweigerte Hans Globke, der spätere Staatssekretär von Konrad Adenauer, des ersten deutschen Bundeskanzlers, schon 1932 christlich getauften Juden die Änderung des Familiennamens, da ein Jude als solcher erkennbar bleiben solle und eine Namensänderung die „blutmäßige Abstammung“ verschleiere. Und wenn aktuell deutsche Rechtsradikale „Ausländer“ vertreiben wollen,dann sind letztere das ebenfalls „blutmäßig“, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft.

Differenzbildung ist damit unauflöslich mit demokratie- und zivilisationsfeindlichen Bestrebungen verbunden. Deshalb ist es an der Zeit, auch aktiv gegen jede Art von Differenzbildung vorzugehen. Denn dahinter verbirgt sich mittlerweile nur noch wenig versteckt das mörderische Antlitz der Barbarei.

Kapitalismus

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, eine Examensarbeit über – grob zusammengefasst – die gesundheitliche Situation von Wanderarbeitern zu lesen. Darin wurde ausführlich eine Diskussion südamerikanischer Autoren referiert, die es für erforderlich halten, gesundheitliche Probleme als Resultat des Kapitalismus bzw. kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu verstehen.

Die Setzung eines solchen Zusammenhangs scheint nun gleichzeitig unterbestimmt und überbestimmt zu sein – unterbestimmt, weil etwa Lungenkrebs auf Rauchen zurückgeführt und Kinderlähmung durch eine Impfung verhindert werden kann und somit Gesundheit in anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen auf genau dieselben Zusammenhänge zu reagieren hat; und überbestimmt, weil aus dem Abstraktum „Kapitalismus“ derart viele Aspekte abgeleitet werden können, dass der Erklärungswert schnell gegen Null geht.

Beides teilt dieser Zugang mit vielen anderen Elementen sog. Kapitalismuskritik, ob nun das Ausbrechen von Kriegen erklärt werden soll, das Elend in der Welt, die Klimakrise oder gleich gar das zukünftige Ende der Welt. Besonders auffällig wurde dieses Muster im Zusammenhang mit dem jüngsten Überfall auf Israel, als bisher meist negativ beurteilte Hobbys – Massenvergewaltigung und das Köpfen kleiner Kinder – aus dieser marginalen Nische herausgehoben wurden und das Attribut des antikolonialistischen und antikapitalistischen Kampfes erhielten. Man kann Freunden dieser Hobbys nur empfehlen, ihre Ausübung in Zukunft grundsolide als antikapitalistischen Widerstand zu apostrophieren, um Beifall einer bestimmten Sorte von Linken zu erhalten.

Tatsächlich kann kaum etwas das Elend „linker“ Weltbeschreibung besser illustrieren als das Verständnis von Kapitalismus bzw. antikapitalistischem Kampf, steht doch im Zentrum dieser Form von Welterklärung die permanente Suche nach dem revolutionären Subjekt. So war schon in den späten 1960er Jahren festzustellen, dass das aus vulgär-marxistischer Sicht zentrale revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, wenig Bereitschaft zeigte, diese Rolle zu übernehmen, und stattdessen lieber samstags den neu erworbenen Opel wusch. Daher landete die Suche sehr schnell bei denjenigen, die ebenso als Betroffene des Kapitalismus identifiziert werden konnten: den kolonialisierten Bevölkerungen der (so die damalige Bezeichnung) Dritten Welt. Es blieb aber zunächst kommunistischen Sekten der „Ersten Welt“ vorbehalten, ihre Zentralorgane nun mit „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch!“ [Hervorh. d. Autor] zu untertiteln. Mittlerweile ist die Vorstellung, es gäbe tatsächlich unterdrückte Völker, aus den entsprechenden Diskursen nicht mehr wegzudenken.

Der Fokus auf das Unterdrückt-Sein, auf die Rolle als Opfer und weg von der Frage, was wollen die Aktivisten dieser „Völker“ und mit welchen Mitteln, erzeugte die bis heute große Anschlussfähigkeit diktatorischer, ja massenmörderischer Bestrebungen an die wohlstandsverwahrloste „Linke“ in den Metropolen der Welt. Das Opfer-Sein wurde zum Trigger für diese Linke, was aufmerksam registriert und in entsprechendes Handeln umgesetzt wurde: Erfolg hat dort heute nur noch, wer sich besonders gut als Opfer inszenieren kann.

In dieser Gemengelage ist „Kapitalismus“ wie sein Schwesterbegriff „Kolonialismus“ selbstverständlich kein irgendwie gearteter Analyse- oder gar Theoriebegriff (mehr), sondern ein bloßes Schimpfwort. Auch aus diesem Grund soll im folgenden ein kurzer Korrekturversuch unternommen werden, indem auf einen der Begriffsursprünge zurückgegriffen wird.

Der Begriff „Kapitalismus“ existierte bereits im 18. Jh.; in negativ-kritischer Bedeutung wurde er aber wohl erstmals von Marx und Engels verwendet (zunächst als „kapitalistische Produktionsweise“). Die kritische Verwendung des Begriffs hat jedoch nichts zu tun mit seiner heutigen, eher intelligenzbefreiten Anwendung auf alles, was irgendwie mit Anhäufung von Reichtum und Diskriminierung von „Opfern“ assoziiert werden kann.

So hatten Marx und Engels etwa für die „unterdrückten Völker“ nur Verachtung und Häme übrig. Und auch das Elend der – als Beispiel herangezogenen – englischen Arbeiter wurde zwar ausführlich beschrieben und analysiert (vgl. z. B. F. Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 1845); das Erkenntnisinteresse war jedoch ein ganz anderes, wie es insbesondere Marx’ dreibändiges Hauptwerk „Das Kapital“ zeigt.

Marx und seinen Zeitgenossen war nämlich aufgefallen, dass die entstehende Wirtschaftsordnung die alten feudalen Verhältnisse z. T. gewaltsam überwand, Leibeigenschaft aufhob, Sklaverei beendete und damit die Menschen aus ihren herkömmlichen Abhängigkeiten befreite und doch nur kleinen Kreisen eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse verschaffte. Offensichtlich sorgten die neuen, marktwirtschaftlichen Mechanismen dafür, dass neue, bisher unsichtbare Wege der Schaffung von Reichtum auf der einen Seite und Armut auf der anderen existierten. Diese Mechanismen, insbesondere den Zusammenhang von Freiheit und Lohnarbeit zu entschlüsseln, war das Ziel der Kapitalismuskritik, um darauf aufbauend Wege der Überwindung dieser Verhältnisse zu finden. Kapitalismuskritik hieß also, nach der Abschaffung von Sklaverei und Feudalismus die neue Wirtschaftsordnung ebenfalls als menschengemachtes gesellschaftliches Verhältnis zu identifizieren, das zu ungleicher Verteilung von Einkommen und Vermögen führt und dem Krisen unausweichlich inhärent sind.

Kapitalismuskritik bedeutet daher gerade nicht, die Marktwirtschaft/den Kapitalismus als das ultimativ Böse für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen, sondern im Gegenteil sein großes Freiheits- und Wohlstandsversprechen als weder notwendig gegeben noch krisenresistent zu verstehen und daher nach Alternativen zu suchen. Diese können in der politischen Gestaltung dieser Wirtschaftsordnung (etwa durch die Sozialdemokratie) ebenso liegen wie in ihrer Überwindung (Schaffung einer anderen Wirtschaftsordnung, was bisher im Hinblick auf den Sozialismus noch nicht erfolgreich realisiert wurde).

Was aber Kapitalismuskritik keinesfalls sein sollte, ist das Favorisieren von Sklavenhaltergesellschaften, von Neofeudalismus, von Mafiastrukturen oder rassistischen Massenmorden. Und ob auf diesem Weg der Schnupfen besiegt werden kann, ist ebenfalls mehr als zweifelhaft.

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