Vielleicht kann man heutige Geschehnisse besser verstehen, wenn man etwas in der Geschichte zurückgeht, genauer: zum 1.11.1755. An diesem Tag – die Kirchen waren zu Allerheiligen voll – erschütterte ein schweres Erdbeben die portugiesische Hauptstadt. Das Erdbeben, die daraus auch resultierenden Großbrände und ein nachfolgender Tsunami zerstörten fast die gesamte Stadt, nur das Rotlichtviertel blieb erhalten. Letztlich verlor bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung sein Leben.
Dieses Ereignis wird als Auslöser einer erneuten Theodizee-Debatte und – daraus folgend – der Aufklärung angesehen. Unter Theodizee (wörtlich: Rechtfertigung Gottes) versteht man ein Bild Gottes als allwissend, allmächtig und allgütig/gut. Diese Sichtwiese wurde durch das Erdbeben gravierend erschüttert, tötete es doch die Kirchgänger und verschonte die Huren.
Selbstverständlich ist das Theodizee-Problem zunächst ein rein abstrakt-philosophisches Thema, diskutiert von den dafür zuständigen Geisteseliten wie Philosophen oder Theologen, denn die überwiegende Masse der Bevölkerung hatte (und hat immer) mit eher irdischen Problemen des Überlebens und des Neuaufbaus ihrer Existenz zu kämpfen. Zugleich aber hatten diese eher abgehobenen Debatten ganz konkrete Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften; denn wenn Gott nicht allwissend, allmächtig und vor allem nicht gütig ist, dann hatten auch die damit unterfütterten Monarchien („von Gottes Gnade“) kein rechtfertigendes Fundament mehr. Insofern kann eine direkte Linie zu der 34 Jahre später beginnenden französischen Revolution gezogen werden. Tatsächlich können – das zeigt das Beispiel Lissabon – fundamentale Krisen zur Entstehung völlig neuer politischer Konzepte (hier: Republik bzw. Demokratie) und deren Realisierung in der Praxis führen.
Eine solche, immer wieder zu findende Einschätzung der Folgen des Lissabonner Erdbebens zeigt jedoch nur die eine Seite der Entwicklungen. Denn es gab eine ganz andere Möglichkeit, das Theodizee-Problem zu lösen, die dann auch ergriffen wurde. Denn wenn eine herrschende Welterklärung, die immer auch die Welterklärung der Herrschenden ist, in eine existentielle Krise gerät, dann liegt es nahe, diese so zu modifizieren, dass sie im Kern unverändert bleibt, aber ihre innere Widersprüchlichkeit überdeckt wird. Und diese besteht nicht nur darin, dass Allwissenheit und Allmacht schon nach den Gesetzen der Logik nicht beide zugleich vorliegen können, sondern im Angesicht der Katastrophe auch und vor allem in der Annahme eines gütigen Gottes. Selbstverständlich kann diese nicht durch die Annahme eines übelwollenden Gottes ersetzt werden, da dies ja den Kern des Glaubens und der religiösen (hier besser: christlichen) Welterklärung ausmacht, sondern durch eine scheinbar wesentlich weniger einschneidende Modifikation.
Die zentrale Innovation besteht darin, Gott und sein Handeln in eine dunstige Ferne zu verschieben, d. h. seine Eigenschaften weiter als existent zu behaupten, offensichtliche Widersprüche nun aber dadurch aufzuheben, dass die Erkenntnisfähigkeit der Menschen als begrenzt bezeichnet wird. Um es überspitzt auszudrücken: Gott ist immer gut und gerecht; wenn es manchmal anders aussieht, dann liegt es daran, dass die Menschen zu dumm sind, um das Handeln Gottes verstehen zu können. Gott hat also immer recht, so wie die christlichen Kirchen dann automatisch auch immer recht haben. Dass 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes beschlossen wurde, ist nur noch der Endpunkt dieser Neuorientierung.
Dieser – man kann es kaum anders nennen – argumentative Trick hat sich seither von der religiösen Ebene auch auf die politische vorgearbeitet. Auch hier kann dann festgestellt werden, dass politische Entscheidungen nicht mehr begründet werden müssen, weil die Fähigkeit, etwas mit Gewalt durchzusetzen, ebenso als Begründung für ein bestimmtes Handeln oder Nicht-Handeln ausreicht (vgl. Carl Schmitt) wie eine reine Bullshit-Argumentation, also eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt völlig irrelevant ist (stellvertretend für viele andere: Donald Trump).
Insofern geht es am Problem vorbei, wenn die permanenten wahrheitswidrigen Aussagen vor allem rechter und rechtsradikaler Politiker korrigiert werden, da Logik oder gar Wahrheit nicht die Münze sind, mit der ein Zugang zur Macht erworben werden kann, sondern – anders herum – der Zugang zur Macht die Möglichkeit eröffnet, etwas zu tun, das als Antwort auf die erfundenen Realitätssplitter ausgegeben werden kann. Ein Beispiel unter vielen: Auf den Klimawandel kann man mit der Reduzierung von CO2 reagieren, aber man kann es auch unterlassen, ja sogar den Bau und Einsatz von Verbrenner-Motoren fördern, woraus dann abzuleiten ist, dass der Klimawandel ja nicht so schlimm sein kann, wenn doch die politisch Verantwortlichen nicht auch entsprechend handeln.
Ganz ähnlich sieht es mit der sog. Alternativmedizin aus. Von politischer Seite werden die gravierenden Aspekte der Quacksalberei ignoriert und etwa Globuli nicht aus den Apotheken in die Süßwarenabteilungen gut sortierter Supermärkte verschoben, weshalb den Zuckerkügelchen die Aura von „Medizin“ verliehen wird. Und das Reichsbürger-Unwesen oder die Verwandlung von Millionen von Bundestrainern in Virologen sind nur einige weitere Formen einer Entwicklung, die Realitätsanerkenntnis durch Propaganda der Macht, durch Betrug und Gewalt ersetzen will.
Die Folgen einer solch quasi-religiösen Negierung tatsächlicher Veränderungsnotwendigkeiten sind umso gravierender, je später die Realitätswahrnehmung einsetzt. Und die könnte ja darin bestehen, dass der Lebensentwurf portugiesischer Huren mehr Zukunft hat als die Pflege von (nicht nur religiösen) Illusionen.
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