Manchmal ist es ganz hilfreich, in einem vor längerer Zeit gelesenen Buch erneut zu blättern und die dort formulierten Erkenntnisse mit heutigen Entwicklungen zu kontrastieren. Ein solches Buch ist die Vortragssammlung „Die Bücher und das Paradies. Über Literatur. München/Wien 2003“ von Umberto Eco.

Darin sind nicht nur Ausführungen zur Bedeutung von Literatur für die Sprache und ihre Entwicklung zu finden, sondern auch und vor allem eine Analyse des zentralen Unterschieds zwischen Literatur und gesellschaftlicher Realität: „Literarische Texte sagen uns nicht bloß ausdrücklich, was wir nie mehr in Zweifel ziehen können, sondern sie bedeuten uns auch im Unterschied zur realen Welt mit souveräner Autorität, was in ihnen als relevant zu gelten hat und was wir nicht zum Ausgangspunkt freier Interpretationen nehmen können.“ (S. 14; Hervorhebungen im Original)

Damit ist ausgedrückt, dass die Welt eines Romans – im Gegensatz zur realen Welt – abgeschlossen ist, ein in sich ruhender Kosmos von Personen, Beziehungen und Geschehnissen. Die Qualität eines literarischen Werks liegt dann darin, wie schlüssig diese Welt aufgebaut ist und sich dem Leser über das Medium der Sprache präsentiert. Kein Kriterium für die Qualität von Literatur ist demgegenüber – und hierin folgt Eco explizit dem literarischen Konzept von Jorge Luis Borges – die Frage, ob die außerliterarische Welt auch wirklichkeitsgetreu gespiegelt wird; vielmehr kann große Literatur ohne weiteres etwa im Fantasy- oder Science-Fiction-Genre anzutreffen sein.

Der Kontakt zwischen Literatur und realer Welt kommt über den Leser zustande; dieser entscheidet, ob er durch ein bestimmtes Werk etwas über sich oder seine Welt erfährt, ob er sich amüsiert oder gruselt oder sich getröstet sieht, oder ob er sich abgestoßen oder gelangweilt fühlt. Es ist also die Entscheidung des Lesers, was er aus einem literarischen Werk für sich macht, es ist aber nicht seine Entscheidung, was darin geschrieben steht oder stehen sollte.

Diese Vorstellung der Autonomie des literarischen Werks scheint in letzter Zeit aus verschiedenen Richtungen attackiert zu werden; und immer geht es darum, dass Literatur nicht das enthält, was jemand für ein wichtiges Thema hält, kurzum: dass Literatur nicht die sprachlich höher stehende Version eines Sachbuchs ist. Zwei Beispiele sollen dies kurz erläutern helfen.

Der erste Fall ist Wolfgang Koeppens 1951 erschienener Roman „Tauben im Gras“, den das baden-württembergische Kultusministerium zum Abiturstoff erklärte, womit er auch zum Unterrichtsthema werden sollte. Eine Ulmer Lehrerin skandalisierte diesen Umstand, weil einzelne Romanfiguren andere als „Neger“ oder – horribile dictu – „Nigger“ titulierten und dieser literarische Rassismus ein „brutaler Angriff auf meine Menschenwürde“ [https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/pflichtlektuere-tauben-im-gras-petition-wegen-rassismus-100.html] sei, weshalb es ihr unmöglich sei, das Buch zu behandeln; letztlich ließ sie sich ganz vom Unterricht freistellen. Dies war der Startpunkt eines Aufwallens von Stimmungen im deutschen Feuilleton, das um das Für und Wider dieses Romans und seiner Behandlung im Unterricht kreiste. Das soll hier aber nicht referiert werden, sondern mittels eines eigenen Zugangs lediglich besser verstanden werden.

Zu diesem Zweck soll auf das Strafgesetzbuch zurückgegriffen werden. Denn was einzelne Personen im Roman äußern, könnte aus heutiger Sicht als Beleidigung (§ 185 StGB) qualifiziert werden. Jemanden als „Nigger“ zu titulieren, ist – nach Antrag des Beschimpften – mit Geldstrafe oder Freiheitsentzug bewehrt; die Höchststrafe beträgt 2 Jahre Gefängnis.

Nun gibt es bekanntermaßen ganz andere und deutlich schwerer bestrafte Delikte, von Betrug (§ 263; bis 5 Jahre Gefängnis) über Diebstahl (§ 242; bis 5 Jahre Gefängnis) bis zu Vergewaltigung (§ 177; bis 15 Jahre Gefängnis) und Mord (§ 211; lebenslang). Und gerade die schweren Verbrechen sind zentrale Themen nicht nur der aktuellen (z. B. Krimi-)Literatur, sondern auch der Klassiker von Shakespeare bis Goethe.

Bisher wurde jedoch noch nie von einer Deutschlehrerin etwa die Lektüre von Goethes Faust mit der Begründung verweigert, dass dort ein Kind ermordet wird (was sicherlich als „brutaler Angriff auf die Menschenwürde“ bezeichnet werden könnte). Offensichtlich ist also für manche Menschen eine Beleidigung ein viel schlimmeres Verbrechen als ein Mord. Literatur, in der ein Mord passiert, ist folglich völlig in Ordnung, solange das Opfer nicht auch beschimpft wird; wenn aber eine Beleidigung passiert, tobt das Feuilleton. Das mag für die Beteiligten irgendeinen Sinn ergeben, für die Literatur hat es aber katastrophale Konsequenzen: Denn wenn ein literarisches Werk nur dann gelesen und im Unterricht behandelt werden kann, wenn die dortige Welt identisch mit der erwünschten Version der realen Welt ist, dann kann Literatur auf die Romane einzelner Bastei-Reihen oder Weltverbesserungs-Agitprop eingedampft werden.

Der zweite, hier anzusprechende Punkt hat bisher noch überhaupt keine kritische Würdigung erfahren; er wird offensichtlich als völlig unproblematisch, ja vielleicht sogar als wichtig oder wenigstens interessant angesehen. Man könnte ihn als den „Schliemann-Fluch“ bezeichnen.

Darunter soll die bis heute andauernde Wirkung Heinrich Schliemanns verstanden werden. Dieser nahm – wie andere vor ihm – Homers Ilias als literaturgewordenen Tatsachenbericht und machte sich auf dessen Grundlage auf die Suche nach dem antiken Troja. Tatsächlich gelang es ihm, zwischen 1870 und 1873 auf dem westtürkischen Hügel Hisarlık Siedlungsspuren auszugraben, die er als Überreste Trojas interpretierte. Obwohl heute unstrittig ist, dass die von ihm gefundenen Mauern und Artefakte nichts mit Homers Troja zu tun haben, ja zweifelhaft ist, ob es Troja je gegeben hat, und wenn ja, ob es an dieser Stelle zu suchen wäre, hat Schliemanns Vorgehen Schule gemacht: historische Literatur als Tatsachenberichte zu lesen und auf dieser Grundlage nach archäologischen Belegen zu suchen.

Was damit angerichtet wurde, kann man unter anderem in Fernsehsendungen erleben, die in Endlosschleife auf Sendern wie ZDFinfo laufen, und doch nur die Spitze eines Eisbergs an Büchern und Artikeln sind. Da wird dann ernsthaft behandelt, auf welchem Berg die Arche Noah gelandet ist, welche biologischen oder physikalischen Ursachen die sieben Plagen vor dem Auszug der Israeliten aus Ägypten hatten, wo Platons Atlantis zu finden ist, und selbstverständlich, wo der Heilige Gral oder der Nibelungenschatz verblieben sind. Es soll zudem Reiseführer geben, die in Verona auf den Balkon aus Shakespeares Romeo und Julia hinweisen (der auch entsprechend vermarktet wird und jährlich hunderttausende von Touristen anzieht) oder auf das Haus in der Baker Street 221B in London, in dem ja Sherlock Holmes wohnte, ohne deutlich zu machen, dass es hier um fiktionale Adressen geht und nicht um die Verortung historischer Gegebenheiten.

Die beiden letzteren Beispiele können noch mit einem gewissen Recht als halb-ironischer Umgang mit Literatur verstanden werden (wobei im Falle Veronas die Ironie in erster Linie darin besteht, Eintrittsgelder für eine Installation des 20. Jhs. zahlen zu müssen); in den übrigen Fällen ist es jedoch durchaus ernst gemeint. Es mag auch zutreffen, dass das Wörtlich-Nehmen von Literatur quasi nebenbei interessante Erkenntnisse auf der Ebene historischer oder naturwissenschaftlicher Forschung erzielen kann. Für die Literatur ist eine solche Rolle wie auch im ersten geschilderten Fall aber durchweg negativ, da sie zum Stichwortgeber außerliterarischer Interessen wird. Um dies zu erkennen, muss man weder Eco noch Borges gelesen haben; manchmal reicht einfach schon ein echtes Interesse an Literatur.

Nachtrag:

Offensichtlich gibt es eine Art „Schliemann-Fluch“ auch in anderen Kunstsparten – so etwa in der Malerei bei dem Versuch, Fantasielandschaften in der Realität wiederzufinden. Ein Beispiel hierfür sind Versuche, die Elemente des Hintergrunds in Leonardo da Vincis Mona Lisa auf reale Landschaftselemente zurückzuführen (vgl. dazu etwa Stefan Trinks: Mona Lisa in den News : Ein neuer Da-Vinci-Code? In: www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/mona-lisa-wurde-die-bruecke-auf-da-vincis-gemaelde-enthuellt-18868696.html)