Dieser Beitrag versteht sich in gewisser Weise als Fortsetzung eines älteren Textes und versucht auf einzelne Rückmeldungen einzugehen. Selbstverständlich soll es im Ergebnis aber wieder ganz grundsätzlich werden.

In einer aufgeklärten Gesellschaft gilt:

Du hältst dich für den, für den du dich hältst. Und ich halte dich für den, für den ich dich halte.

Konkret könnte das etwa heißen:

Du hältst dich für einen überaus sympathischen Menschen, ich halte dich für eine Nervensäge.

Du hältst dich für eine Frau, ich halte dich für einen Mann.

Du hältst dich für Gottes Stellvertreter auf Erden, ich halte dich für verrückt (alternativ: für den Bewohner eines Palasts in Rom, der das behaupten muss, um nicht hinausgeworfen zu werden).

Was bedeuten diese beispielhaft aufgezählten Abweichungen von Fremd- und Eigeneinschätzung? Oder auch: Gibt es eine Auflösung dieser Diskrepanz? In traditionellen Gesellschaften mit festgelegten sozialen Rollen ist die Lösung recht einfach: Der einzelne hat keine andere Wahl als das Fremdbild auch für sich zu übernehmen. In manchen Fällen bieten solche Gesellschaften aber auch einen Rollenwechsel an, womit die Identität von Eigen- und Fremdbild ebenfalls gewahrt bleibt.

In modernen Gesellschaften mit ihrer Möglichkeit, aber auch dem Zwang zu permanenter Rekonfiguration sozialer Verhältnisse und persönlichen Rollenzuweisungen wird mit dem geschilderten Dilemma anders umgegangen, und zwar mit einem ungeschriebenen Vertrag, der in etwa so lautet:

Ich zwinge dich nicht dazu, mein Bild von dir zu übernehmen; im Gegenzug lässt du mich mit deinem Selbstbild in Ruhe. Du kannst dich halten, wofür du willst, solange du mich nicht damit belästigst oder gar Forderungen an mich daraus ableitest. Ich gestehe dir dafür zu, dich selbst grundlegend falsch einschätzen zu dürfen, ohne dass du deshalb irgendwelche Konsequenzen zu befürchten hast.

Leider gerät diese Art Gesellschaftsvertrag immer wieder in Gefahr, versuchen Rassisten und Transgender-Aktivisten, Nationalisten und Selbstoptimierungspropagandisten, Querdenker, Marktradikale und Marktschreier, diesen Vertrag aufzukündigen und der jeweiligen Gegenseite ihre Realitätswahrnehmung aufzudrängen. Der Preis, der dafür zu zahlen wäre, sollte dies gelingen, ist die Zerstörung fluider Rollenkonzeptionen, auf denen die moderne Gesellschaft gründet, und damit diese selbst.