Heute soll es um das Schulmassaker im US-amerikanischen Uvalde und das, was man daraus lernen kann, gehen. Es reiht sich ein in eine ununterbrochene Reihe von Tötungen mit Schusswaffen, die zu den immergleichen Reaktionen führen: Aufrufe zum Gebet für die Opfer, Rufe nach strikteren Waffengesetzen und der harschen Gegenposition, man solle diese Anschläge nicht dazu nutzen, das geheiligte Recht auf Waffentragen einzuschränken. Dies ist so vorhersehbar wie ergebnislos. Vor allem trägt es genausowenig zu einem Begreifen der Situation bei wie Hinweise auf die Arbeit der Waffenlobby, psychologische Betrachtungen zum Täter oder gleich der Hinweis auf die zutiefst rätselhafte Mentalität der US-Amerikaner.

Mir scheint ein vertieftes Verständnis daran ansetzen zu können, wie amerikanische Schulen sich auf solche Ereignisse vorbereiten, nämlich wie aktuell an 95 % aller Schulen mit sog. Active Shooter Drills, denen die drei Leitvokabeln Run, Hide, Fight zugrundeliegen. Während Davonlaufen und sich Verstecken als naheliegende Verhaltensweisen beim Auftauchen eines bewaffneten Attentäters in einer Schule gelten können, ist fraglich, was die Aufforderung an Grundschüler, gegen den Angreifer zu kämpfen, bedeuten soll. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Weitere Besonderheiten, die hier zu beachten sind, sind der fortschreitende Ausbau der Schulen zu Festungen, dies sowohl in baulicher Hinsicht als auch durch den Einsatz bewaffneter Türsteher, und das zentrale Mantra der Waffenlobby, das da lautet: Das einzige, das einen bösen Mann mit einer Schusswaffe aufhält, ist ein guter Mann mit einer Schusswaffe.

Gerade dieser Satz kann helfen, ein wesentliches Element der Schusswaffenproblematik zu erkennen. Denn auf den ersten Blick klingt er ziemlich unsinnig, ist doch ein bewaffneter Angreifer grundsätzlich im Vorteil gegenüber seiner Zielperson. Diese kann – wenn sie nicht selbst attackiert – nur reagieren; und das ist in dem Fall, dass der Angreifer nicht völlig unfähig ist, üblicherweise nicht mehr möglich. Damit erweist sich schon aus der Situationslogik heraus das Gegenüber von bösem Angreifer und gutem Angegriffenen, der sich wehrt, als obsolet.

Tatsächlich gibt es jedoch eine Konstellation, in der dieser Satz einen Sinn ergibt und auch die anderen Vorkehrungen nicht mehr so abstrus erscheinen. Das ist dann der Fall, wenn nicht von zwei Beteiligten(gruppen) ausgegangen wird, sondern von drei. Dann gibt es nicht den bewaffneten Täter und das bewaffnete Opfer, sondern den bewaffneten Täter, das Opfer und eine dritte Partei, die bewaffnet ist und gegen den Täter einen Zweitschlag ausführt. Nun dient der festungsartige Ausbau von Schulen dazu, die Opferzahl möglichst gering zu halten, bis die Polizei oder andere Bewaffnete eintreffen und den Täter ausschalten. Und auch der anfänglich rätselhafte Teil der Active Shooter Drills, die Grundschüler sollten – sofern sie nicht davonlaufen oder sich verstecken können – „kämpfen“, was man sich als Einsatz von Bastelscheren oder Buntstiften gegen eine Person mit Sturmgewehr vorstellen muss, wird plötzlich verständlich: diese Grundschüler opfern sich, um dem bewaffneten Gegenangriff Zeit zu geben, sich zu formieren oder überhaupt erst vor Ort zu gelangen.

Damit erweist sich die Schusswaffenproblematik in den USA nicht in erster Linie als ein Frage von Verfügbarkeiten usw., sondern vielmehr als Ausdruck eines Gesellschaftsverständnisses, das sich in einem permanenten Kriegszustand wähnt, mit Angreifern, Zivilisten/Opfern und Verteidigern. In dieser Situation eines imaginierten (Bürger-)Kriegs sind Beschränkungen des Waffenbesitzes tatsächlich widersinnig, die Bewaffnung weitet sich weiter aus, aus der Imagination wird Realität. Und ein Konzept wie das staatliche Gewaltmonopol wird zum Synonym von Kapitulation vor dem Feind.