Regeln – die ja Handlungen grundsätzlich einschränken, verhindern oder erzwingen – haben zur Zeit einen denkbar schlechten Ruf. Man denke nur an die Grünen, denen beim Vorschlag einer neuen Regel (etwa: Abschaffung von Binnenflügen) der Vorwurf der „Verbotspartei“ entgegenschallt, woraufhin die Partei sofort einen Rückzieher macht – eine Verbotspartei möchte man nun wirklich nicht sein. Wirtschaftsvertreter jammern lautstark über viel zu viele Regelungen, die sie am selbstlosen Arbeiten für die Wohlstandsmehrung aller hindere. Und die Freunde der ungebremsten Durchseuchung – vulgo: Querdenker – wähnen sich bereits im Freiheitskampf gegen eine Diktatur, weil es in geschlossenen Räumen teilweise eine Maskenpflicht gibt, gegen die man sich mit Erschießung von Tankwarten zu wehren gedenkt. Angesichts dieser vielfältigen Bemühungen um Freiheiten und gegen Regeln fehlt eigentlich nur noch, dass sich frisch enttarnte Kinderschänder als Vorkämpfer der Freiheit inszenieren, wenn sie ihren kleinen Liebhabereien frönen.
Was bei all diesem Getöse untergeht, sind zwei Fragen: Wo spielen Regeln eine Rolle, und wie ist das Verhältnis von Freiheit und Regeln zu bewerten?
Für die erste Frage sollen zunächst ein paar Beispiele angeführt werden. So ist es erlaubt, den Ehepartner als „verblödetes Rindvieh“ zu titulieren, bei der Nachbarin ist es hingegen strafbar. Beim Sommerfest des Sportvereins kann problemlos selbst gebackener Kuchen verkauft werden, in der städtischen Fußgängerzone aber nicht. Ohne ärztliche Ausbildung und Zulassung kann nicht als Arzt gearbeitet werden, als Heilpraktiker jedoch darf man die absurdesten Heilverfahren anwenden. Und während es auf deutschen Autobahnen kein grundsätzliches Tempolimit gibt, ist es strengstens verboten, die Gegenfahrbahn zu benutzen. Diese Aufzählung könnte endlos fortgesetzt werden; eines ist dabei offensichtlich: In allen Bereichen des privaten und gesellschaftlichen Lebens gibt es Regeln, die manchmal selbstverständlich, manchmal aber auch umstritten sind. In vielen Situationen wäre es wünschenswert, viel mehr Regeln zu haben, in anderen ist es eher nicht so. Angesichts der Vielfalt an Regeln ist daher zunächst kaum verständlich, dass etwa die Maskenpflicht als Einschränkung grundgesetzlich garantierter Freiheiten bezeichnet wird, gilt das doch für unzählige Regeln (s. obige Beispiele), die dann alle fundamental abgelehnt werden müssten.
Um diese scheinbar überzogene Position verstehen zu können, ist es nötig, die zweite Frage zu diskutieren: Wie sieht es mit dem Verhältnis von Freiheit und Regeln aus, welche Einschränkungen von Freiheiten durch Regeln gibt es? Die Antwort ist recht einfach. Die beiden Seiten sind nämlich gar keine Gegensätze, sondern Elemente ein und desselben gesellschaftlichen Verhältnisses, bei dem es eben Bevorzugte und Benachteiligte gibt. So ist eine Fußgängerzone sowohl Freiheits- als auch Verbotsgebiet; sie gibt den Fußgängern die Möglichkeit, sich ungestört von Autos dem Warenangebot der Innenstädte zu widmen, während Autofahrer davon ausgeschlossen sind. Die Einschränkung meiner Freiheit, dem Gegenüber die Faust ins Gesicht zu rammen, entspricht seiner Freiheit, sich davor nicht schützen zu müssen. Und die von Regeln wenig oder gar nicht beschränkte Freiheit des Anhäufens von Reichtum ist identisch mit der Verhinderung von Wohlstand und damit der Einschränkung von Freiheit bei anderen. Nicht zuletzt finden sich die Merkmale von Freiheiten und Vorschriften auch in längeren Zeiträumen; so ist die heutige Freiheit zum Anheizen des Klimas verbunden mit den Zwangslagen späterer Generationen, die sich an andere, extreme Lebensbedingungen anpassen müssen.
Das zentrale Element aller Debatten über diese beiden Seiten von Regelungen bzw. Nicht-Regelungen ist konsequenterweise, dass immer nur die Freiheit derjenigen Seite hervorgehoben wird, der man sich selbst zuordnet, nicht aber diejenige der anderen. Ein typisches Beispiel und zugleich Meisterin der Verschleierung dieses Sachverhalts ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung, auf deren Webseite der Redakteur Lukas Weber unter dem Titel „Unfreie Fahrt“ (abgerufen am 5.10.21) schreibt: „Kommt mit der neuen Regierung ein starres Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen? Wenn sich eine Ampel-Koalition für Tempo 130 ausspricht, geht wieder ein Stück Freiheit verloren.“ Noch allgemeiner und damit das eigene Interesse stärker maskierend formuliert es der Redakteur Reinhard Müller unter dem Titel „Die Union als Hebamme“ (abgerufen am 6.10.21) folgendermaßen: „Sollte es zur Ampel-Koalition kommen …, wird die FDP dafür in Haftung genommen werden, wenn die Freiheit flöten geht.“
Vertritt ersterer Autor noch relativ ungeschminkt das Recht der Besitzer massenmordtauglicher Boliden auf Fortbewegung um jeden Preis, den dann die anderen zu zahlen haben, bleibt letzterer Autor nur scheinbar im Ungefähren. Da er Freiheit als solche verteidigt und sich nicht dazu herablässt, eine konkrete Freiheit von oder Freiheit zu einzufordern, formuliert er nichts anderes als das Recht des Stärkeren, das durch keinerlei Regeln zugunsten der Freiheiten bisher Benachteiligter eingeschränkt werden dürfe. Genau damit aber erweisen sich Regeln als die einzige wirksame Bastion gegen die Hegemonialansprüche einer mächtigen Minderheit; und der aktuell schlechte Ruf von Regeln entpuppt sich als Teil einer Propagandastrategie zum Erhalt politischer, sozialer und wirtschaftlicher Privilegien.
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