Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Monat: Juli 2021

Schweine und Welterklärung

Wenn man sich die zahlreichen Verschwörungserzählungen und Schwurbeleien ansieht und nach den Gründen für ihren Erfolg fragt, findet man neben dem Umstand, dass man damit gut Geld verdienen oder zumindest seine mediale Bedeutung („likes“) erhöhen kann, vor allem psychologische Erklärungen. Dazu gehört etwa, dass deren Anhänger in einer als kompliziert wahrgenommenen Welt einfache Antworten suchen oder in einem Angstszenario die Illusion der Selbstermächtigung aufrecht erhalten wollen. So sehr dies in gewissem Maße sicherlich zutrifft, so wenig ist damit die innere Logik dieser Erzählungen, auch und vor allem dann, wenn ihre Unlogik augenfällig ist, begriffen.

Ein Weg zu einem besseren Verständnis scheint mir mit dem periodischen Verzehr von Schweinen verbunden zu sein, genauer: mit Roy A. Rappaports berühmter Studie „Pigs for the Ancestors“ (1968). Worum geht es darin? Rappaport berichtet hier von der Bewältigung eines großen ökologischen und zugleich gesundheitlichen Problems bei den Maring, einem Volksstamm auf Neuguinea. Das Problem besteht – kurz zusammengefasst – darin, dass die Maring den größten Teil des Jahres von den pflanzlichen Produkten ihrer Hausgärten leben, während sich die wildlebenden Schweine in der Umgebung stark vermehren und dann die Gärten verwüsten. In dieser Situation veranstalten die Maring ein großes Fest, bei dem die Schweine getötet und verspeist werden, was zwei Effekte hat: die Zahl der Tiere und damit der Angriffe auf die Gärten wird reduziert und der Eiweißhaushalt der Menschen wieder in Ordnung gebracht.

Das Bemerkenswerte an dieser sehr wirksamen doppelten Regulierung (der inneren wie der äußeren Natur) ist der Umstand, dass die Maring dafür keinerlei ökologische und ernährungsphysiologische Kenntnisse und auch kein entsprechendes Vokabular benötigen. Das Schweinemassaker wird vielmehr religiös begründet; anstatt ökologische oder Ernährungs-Probleme anzugehen, lösen die Maring sakrale Aufgaben: Die Schweine sterben für die Ahnen.

Wenn Niklas Luhmann dies ironisch so kommentiert, dass manchmal „überirdische Dinge leichter und sozusagen pragmatischer zu organisieren sind als irdische“ (Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Opladen 1985, S. 70), dann kann das auch in einer allgemeineren Weise so interpretiert werden, dass Gesellschaften offensichtlich denjenigen Blick auf ihre Probleme haben, der mit den Strukturen dieser Gesellschaften am besten harmoniert. Anders: Für die Maring ist es wenig sinnvoll, hochspezialisierte Fachleute für Ökologie und Ernährungsphysiologie auszubilden, wenn ein simpler Rückgriff auf etablierte Regelungsformen – die Kommunikation mit den Ahnen – völlig ausreichend ist, das geschilderte Problem in den Griff zu bekommen.

Es ist offensichtlich, dass in komplexeren Gesellschaften ein solcher Lösungsweg nicht mehr möglich ist. Mit zunehmender Arbeitsteilung und der Differenzierung der Gesellschaft in immer stärker spezialisierte Funktionssysteme entfernen sich Wissens- und Erklärungsbereiche schon sprachlich, aber auch organisatorisch immer weiter voneinander. Das Schlachten von noch so vielen Schweinen trägt dann nicht dazu bei, dass ein liegengebliebenes Auto wieder mobil wird, und das Anrufen der Ahnen verbessert weder die Pünktlichkeit der Bahn noch die Handyproduktion, ja hilft nicht einmal beim Verlegen einer neuen Wasserleitung. Die Zeit der Universalgelehrten ist ebenso vorbei wie das Vermögen fest definierter Akteure, die Gesamtgesellschaft zu steuern.

Stattdessen ist es die Gesellschaft selbst, die diese Steuerung leistet. Alle Versuche (so sie überhaupt stattgefunden haben), etwa die wirtschaftlichen Aktivitäten während der Pandemie politisch zu regulieren, waren zunächst chaotisch und ineffektiv; außer Laufenlassen, Zusperren und Geldverteilen gab es keine Lösungen. Erst die Interventionen zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure v. a. aus den Wissenschaften führten langsam zu wirkungsvolleren Maßnahmen. Ähnliche Defizite der politischen Steuerung existieren in zahlreichen anderen Bereichen und werden letztlich nur durch Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft behoben oder zumindest reduziert.

Wie das Beispiel der Maring zeigt, kann davon gesprochen werden, dass die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft mit ihrer inneren Struktur korrespondiert; eine religiöse Selbstbeschreibung bietet dort die Handlungsperspektive, auftretende Probleme auf der sakralen Ebene zu lösen. Ebenso dient die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als Leistungsgesellschaft dazu, Probleme als Aufforderung zu besserem, d. h. der Situation besser entsprechendem Handeln der Individuen zu verstehen und somit die politischen Eliten von Verantwortlichkeiten zu entlasten. Und der aktuelle Fokus mancher Debatten auf dem Diskriminierungsaspekt verschiebt den Blick von der Logik sozioökonomischer Ungleichheit auf die Unachtsam- oder gar Böswilligkeit von Individuen, denen durch kollektive und administrative Handlungen zu begegnen ist.

Was folgt aus diesen Überlegungen für die Einschätzung von Verschwörungstheorien? Wenn alles – oder zumindest die wesentlichen Elemente der Gesellschaft – von Verschwörern geplant und gestaltet ist, wenn es also eine klar umrissene Gruppe von Akteuren gibt, die für alles verantwortlich ist, dann hat das zwei Konsequenzen: Erstens ist nach diesem Weltbild die Gesellschaft (hier: der Verschwörungsopfer) von außen gesteuert, wofür bei den Maring die Ahnen zuständig sind. Aber anders also bei den Maring wird zweitens diese Determinierung von außen nicht durch Opfergaben zu beeinflussen versucht, sondern zu dessen Beseitigung aufgerufen.

Damit ist nicht nur das Weltbild der Verschwörungstheoretiker mit einer modernen komplexen Gesellschaft nicht vereinbar, sondern trägt die Konsequenz in sich, diese abschaffen zu müssen. Denn gerade die komplexen, nachgerade chaotischen Prozesse der Moderne werden als Beleg dafür angesehen, dass finstere Gesellen dem naiven Rest der Bevölkerung Böses wollen. Das Gegenbild besteht darin, ebendiese Moderne durch einfach nachvollziehbare, quasi harmonische Zustände und Entscheidungsformen zu ersetzen. Es liegt daher auf der Hand, dass die Rückkehr zu einer mythisch grundierten, von weisen Männern und Frauen geführten Gesellschaft nur mit der völligen Zerstörung aller Elemente der Moderne zu erreichen ist. Auch deshalb offenbart die Kommentierung von Verschwörungstheorien als allein psychologisches Problem eine groteske Unterschätzung des Phänomens.

Statistik für Pandemiker

In der Wochenzeitung „Der Freitag“ erschien im Mai 2021 ein Artikel, der sich kritisch mit der Inzidenz als Grundlage für Anti-Corona-Maßnahmen auseinandersetzte (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/irrtum-inzidenz). Der Autor bezog sich dabei auch auf einen (nach eigener Aussage) „Mathematik-Studenten“, der folgende Rechnung anstellte:

„Landkreis A und Landkreis B haben jeweils 50.000 Einwohner und jeweils ein Prozent Infizierte. Landkreis A testet 5.000 Einwohner und findet rund 50 Infizierte. Landkreis B testet 2.000 Einwohner und findet rund 20 Infizierte. Damit läge Landkreis A bei einer Inzidenz von 100, Landkreis B jedoch bei einer Inzidenz von 40. Dies, obwohl beide Landkreise ein Prozent Infizierte haben. ´Rückschlüsse auf das Pandemiegeschehen lässt dieser Inzidenzwert nicht zu´, folgert der Student.

In diesen wenigen Sätzen gelingt es dem „Mathematik-Studenten“, gleich vier gravierende Statistik-Fehler zu produzieren – eine wirklich reife Leistung, mit der ich mich im folgenden beschäftigen werde.

1. Der erste Fehler findet sich schon in der Grundkonzeption des Textes. Denn sich einer fiktiven Grundgesamtheit (Anzahl von Infizierten in einer fiktiven Region) durch eine fiktive Stichprobe (Anzahl von Tests) zu nähern, kann nur dazu dienen, das Rechenverfahren zu demonstrieren, hier also zu zeigen, dass der Autor die Grundrechenarten beherrscht. Daraus Schlussfolgerungen über reale Gegebenheiten zu ziehen, ist hingegen statistisch nicht zu rechtfertigen und damit haltlos.

2. Auch die Aussage, dass man durch Testen die angeführten Zahlen von Infizierten findet, ist einfach nur falsch; sie suggeriert nämlich, dass es sich bei den Tests um Zufallsstichproben handelt, bei einer Verdopplung der Anzahl von Tests komme es also zu einer Verdopplung der Zahl von Infizierten. Bei den heute durchgeführten Tests handelt es sich aber gar nicht um Zufallsstichproben, sondern in erster Linie um Menschen mit Symptomen, um Kontaktpersonen von Erkrankten und Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit des Kontakts mit Erkrankten (etwa Beschäftigte in entsprechenden Berufen oder Reisende). Je geringer die Anzahl der Tests ist, desto größer ist also die relative Wahrscheinlichkeit, Infizierte zu finden.

3. Aber auch wenn es sich um Zufallsstichproben handelte, ist das Ergebnis nicht schlüssig. Denn laut RKI beträgt die Testkapazität mit PCR-Tests in Deutschland rd. 350.000 pro Tag. Da ein negativer Test eine Gültigkeit von etwa 3 Tagen hat, können in diesem Zeitraum ca. 1 Mio Personen getestet werden, also grob geschätzt zwischen 1 und 2 % der Bevölkerung. Das bedeutet für den fiktiven Landkreis des Studenten zwischen 500 und 1000 Personen. Sind dann – nach der von ihm angeführten Quote – etwa 1 % der getesteten Personen positiv, ergibt das eine Trefferquote von absolut 5 bis 10 Personen. Um aber diese Personen zu finden, ist eine Zufallsstichprobe nicht angebracht. Hier müsste eine komplex zusammengesetzte, geschichtete Stichprobe gewählt werden. Eine Zufallsstichprobe ist ein untaugliches Instrument.

4. Der vierte ist zugleich der gravierendste Fehler. Denn das Beispiel suggeriert, dass es bei den Tests darum geht, die Häufigkeit des Vorkommens von Infektionen zu ermitteln. Wie bereits angeführt, ist dies mitnichten der Zweck der Tests; vielmehr geht es darum, für einzelne Individuen zu ermitteln, ob sie infiziert sind. Eine Schlussfolgerung auf die Grundgesamtheit ist schon von der Grundkonzeption der Tests her überhaupt nicht vorgesehen. Die Inzidenz stammt somit quasi von der Restrampe der Tests; wenn man sie schon mal gemacht hat, kann man ja über die Rückmeldung an das jeweiligen Individuum hinaus auch noch eine scheinbar gut fundierte Aussage über die Verteilung von Infektionen in der Bevölkerung insgesamt machen. Was aber nicht statthaft ist bzw. mit einer gründlich reflektierten Einschätzung der Gefahren eines theoretisch nicht unterfütterten Data-Minings verbunden sein müsste.

5. Wie einleitend beschrieben, geht es hier nur um vier Fehler. Was ist dann der fünfte? Der fünfte Fehler ist keiner des „Mathematik-Studenten“, sondern kann zumindest seinen letzten erklären helfen. Der Fehler ist, für politische Entscheidungen eine Zahl, die zu einem ganz anderen Zweck ermittelt wurde, als entscheidend anzusehen und keinerlei tatsächliche Erhebung über die Verteilung von Infektionen vorzunehmen. Wie dies passieren könnte, kann an vielen Beispielen aufgezeigt werden. Da ist etwas die Praxis in Großbritannien, Kohortenstudien vorzunehmen, was zu einer relativ genauen Einsicht in die Häufigkeit von Infektionen führt. Auch das Modell des Landkreises Berchtesgadener Land, aus den Abwässern auf die Virusverteilung zu schließen, scheint eine aussagekräftige Maßnahme zu sein, wird aber ebenso wie das britische Modell von politischer Seite abgelehnt. Auf die Frage, warum das so ist, kann neben den Verweisen auf zusätzlichen Aufwand und das heißt zusätzliche Kosten (die aber gegenüber den Schäden der Pandemie vernachlässigbar sind) nur eine Antwort gegeben werden: Der Verweis darauf, dass man es halt nicht genauer weiß, eröffnet die Möglichkeit, beliebige Inzidenzzahlen als Grenzwerte zu definieren und damit den jeweils favorisierten Lobbygruppen und deren Interessen entsprechen zu können. Zu viel mehr können sie nicht dienen.

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