Am 9.11.2020 lief in der ARD ein Beitrag über Heilpraktiker. Der Aufmacher war die Geschichte einer krebskranken Frau, die trotz 90-prozentiger Heilungschance ihres Krebses eine medizinische Behandlung ablehnte, sich stattdessen an einen Heilpraktiker wandte und – wenig überraschend – eines qualvollen Todes starb. Auskunft über die Motive der Frau gab eine Freundin, die berichtete, dass die Kranke von ihrem Arzt nur Chemo- und Strahlentherapie vorgeschlagen bekommen habe und auf die Frage, ob denn nicht alternative Behandlungsmöglichkeiten oder die Umstellung der Ernährung helfen könnten, keine Antwort erhalten habe, weshalb sie dann zum Heilpraktiker gegangen sei.
Offensichtlich, so suggerierte nicht nur dieses Interview, sondern auch andere Teile des Beitrags, ist der Gang zum Quacksalber das Ergebnis einer schlechten oder erst gar nicht stattfindenden Kommunikation seitens des medizinischen Fachpersonals. Leider ist diese Argumentation nicht nur eher unlogisch, sondern betreibt Desinformation. So wird etwa bei allen Hinweisen auf die so geduldig zuhörenden Alternativheiler immer verschwiegen, dass diese Geduld auch sehr hoch vergütet wird. Ein Homöopath etwa erhält von den Krankenkassen für ein Gespräch ein Mehrfaches dessen, was einem Arzt zusteht; damit finanzieren die Krankenkassen Scharlatanerie aus den Geldern ihrer Versicherten und leisten dem Mythos der genauen und ganzheitlichen Anamnese Vorschub.
Und so völlig voraussetzungslos scheint die Frage der Patientin auch nicht gewesen zu sein; wenn sie nach pseudomedizinischen Behandlungen fragt, dann ist der Gang zum Heilpraktiker kein bloßes Reagieren auf die Kommunikationsdefizite des Arztes, sondern Ausdruck tiefsitzender Einstellungen. Jemand, in dessen Wohnung ein Wasserschaden vorliegt, darf auch nicht erwarten, dass ein herbeigerufener Klempner, der seine Werkzeuge auspackt, erschöpfende Auskünfte zu der Frage gibt, ob nicht auch das Handauflegen gegen den Wasserschaden helfen könnte.
In meinem Entsetzen über zahlreiche Äußerungen in dem Fernsehbeitrag habe ich zunächst einen Punkt übersehen, den ich im Nachhinein noch wichtiger finde als das Räsonnieren über die Sinnhaftigkeit von Nonsens in der Heilbranche. Nämlich den Sachverhalt, dass sich die Kranke – so die Aussage der Freundin – nicht nur nach Alternativbehandlungen erkundigte, sondern auch danach, ob sie über die Umstellung ihrer Ernährung zur Krebsheilung beitragen könne.
Das Verhältnis von Ernährung und Gesundheit ist traditionell recht einseitig, nämlich dass falsche Ernährung dem Körper schaden kann. So vermag exzessiver Alkoholkonsum die Leber zu schädigen, ein Übermaß an Salz, Fett, Zucker oder anderem kann Stoffwechselstörungen hervorrufen. Auch waren Mangelerscheinungen bei zu wenig Vitamin C ein bekanntes Krankheitsbild im Zeitalter der Segelschiffe (Skorbut), und der Vitamin D-Mangel (Rachitis) wurde bis weit ins 20. Jh. hinein durch das Verabreichen von Lebertran zu bekämpfen versucht, wovon Menschen, die in dieser Zeit Kinder waren, bis heute schaurige Geschichten erzählen können. Alles in allem können also bestimmte Krankheiten auf Mangel- oder Fehlernährung zurückgeführt werden. Dies ist seit Urzeiten bekannt, wenn auch nicht immer mit exaktem Wissen um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verbunden.
In den letzten Jahrzehnten wird dieses Verständnis der Rolle von Ernährung in zunehmendem Maße von einer anderen Position verdrängt. Jetzt geht es nicht mehr darum, Schäden durch Fehlernährung zu vermeiden, sondern darum, Störungen des Wohlbefindens und sogar Krankheiten durch „richtiges“ Essen zu bekämpfen. Die eingangs zitierte Krebskranke ist hierfür ein gutes Beispiel.
Diese Position kann auf ein reiches geistesgeschichtliches Erbe zurückblicken. Es handelt sich dabei um das in der Antike (Hippokrates, Galen von Pergamon) entwickelte und bis in die Neuzeit hinein angewandte Konzept der Humoralmedizin (auch: Säfte-Lehre). Danach existiert Gesundheit dann, wenn die vier körpereigenen Säfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und weißer Schleim im Gleichgewicht sind. Umgekehrt ist eine Krankheit definiert und ausgelöst durch das Ungleichgewicht der Säfte. Für die Behandlung von Krankheiten ist es daher notwendig, durch entsprechende Ernährung die Säfte wieder in Gleichgewicht zu bringen (ganz ähnlich auch die 5-Elemente-Lehre des chinesischen Taoismus). Den Säften sind Organe, Farben, Geschmäcker u. a. zugeordnet, die dann Hinweise darauf geben, welche Lebensmittel welche Krankheiten heilen. Im Mittelalter wird die Säfte-Lehre noch um astrologische Elemente erweitert.
Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jh. wird auch die Säfte-Lehre in der Medizin obsolet; die rasante Zunahme des Wissens um die Biochemie des Körpers und die Entdeckung von Bakterien und Viren machen bisher ungeahnte medizinische Fortschritte möglich. Doch die Vorstellung, dass der Körper ein inneres Gleichgewicht benötige, das durch entsprechende Ernährung zu gewährleisten sei, bleibt als Hintergrundrauschen in den volkstümlichen Vorstellungen von Gesundheit erhalten. Zudem steht die Medizin schnell von zwei Seiten unter Beschuss.
Auf der einen Seite widerspricht die naturwissenschaftliche Medizin dem Krankheitskonzept des (insbesondere protestantischen) Christentums, wonach Krankheit die Strafe Gottes für ein sündhaftes Leben ist (als eine Variante ist die anthroposophische Deutung anzusehen, wonach Krankheit die Strafe für falsches Verhalten in einem früheren Leben ist). Daher besteht der richtige Weg zur Heilung nicht in der Einnahme von Medikamenten, sondern in der Änderung der Lebensführung, hin zu einem gottesfürchtigen Leben. Auf der anderen Seite findet sich eine Allianz von sog. Ernährungswissenschaft und handfesten Geschäftsinteressen, die beide fast jährlich neue, gesundheitsfördernde Ernährungsweisen erfinden, was wiederum mit der Propagierung einzelner Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel und Superfood einhergeht. Ein Blick in Frauen- und viele andere Arten von Zeitschriften illustriert diesen Kommerztyp auf das Eindringlichste.
Während auf der einen Seite also Krankheit mit einem Konzept von Schuld („falsche Lebensführung“) verbunden ist, suggerieren auf der anderen Seite Ernährungsanbieter gegen Bezahlung und/oder gehorsames Befolgen von Anweisungen die Befreiung von dieser Schuld und damit die Heilung von Krankheit und Gebrechen.
Aus dieser Sicht passt das eingangs geschilderte Verhalten der Krebskranken sehr gut in ein bestimmtes Verständnis von Krankheit, das genauso fatal ist wie die Entscheidung dieser Frau für eine nicht-medizinische Behandlung.
Neueste Kommentare