Der wohl bekannteste Satz aus dem historischen Gewerbe der Straßenräuberei ist so verständlich wie dem Wortsinn nach falsch: „Geld oder Leben!“. Diesen Satz versteht jeder, nämlich dass es darum geht, das eigene Leben zu retten, indem man dem Räuber seine Habseligkeiten aushändigt. Zugleich ist der Satz falsch, denn die formulierte Alternative gibt es gar nicht. Man möge sich die Antwort eines Postkutschenreisenden vorstellen, der sagt, wenn er schon die Wahl habe, gebe er gern das Leben, da er schon alt sei und mit dem Geld, das er durch die Opferung seines Lebens behalten könne, seiner vielköpfigen Familie ein gutes Leben ermögliche. Die Reaktion des Räubers würde dann – sofern er kommunikativ versiert ist – vor dem Abschießen der Pistole die Information für den Reisenden sein, dass er, der Reisende, doch ein Trottel sei, denn die tatsächliche Alternative laute doch grundsätzlich „Geld oder Leben und Geld“. Das habe er sich doch denken können, doch dazu sei es jetzt leider zu spät.
An diesen Trottel lassen all diejenigen denken, die im Fall der aktuellen Corona-Pandemie damit hausieren gehen, dass doch die Schäden an der Wirtschaft, die aus den Anti-Corona-Maßnahmen resultierten, viel gravierender seien als die Pandemie selbst. Unabhängig davon, als wie unappetitlich man das Aufrechnen von Toten und Pleitiers ansieht, stellt sich die Frage, ob die Alternative „Krankheit eindämmen vs. Wirtschaft schützen“ überhaupt existiert oder nicht ein ähnlicher Fehlschluss wie beim Raubüberfall vorliegt.
Unlängst wurde etwa die „Great Barrington Erklärung“ veröffentlicht, ein Statement von Epidemologen aus dem Umfeld von großindustriell geförderten Einrichtungen von Klimawandelleugnern, in der dafür plädiert wird, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu isolieren, damit die übrigen Menschen ihr gewohntes Leben weiterleben und vor allem die Wirtschaft am Laufen halten können. Die Menschen sollten ihr eigenes Risiko selbst beurteilen und dementsprechend handeln. Jeder Lockdown würde hingegen die Wirtschaft zum Erliegen bringen und zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen etwa durch die Verschiebung von Vorsorgeuntersuchungen hervorrufen; er wird daher strikt abgelehnt.
Viele praktische Probleme ergeben sich aus der skizzierten Position. Zunächst einmal ist unklar, ab welcher Gefährdungsstufe (also z. B. durchschnittliche Sterbewahrscheinlichkeit bei einer Corona-Infektion) bestimmte Bevölkerungsgruppen isoliert werden sollten; gilt dies nur bei Sterbewahrscheinlichkeiten über 50 % oder schon bei 5 %? Auch sind zahlreiche Personen aus Risikogruppen – etwa Übergewichtige, Asthmatiker oder Über-60-jährige – in wirtschaftlich wichtigen Positionen; dies reicht von Vorstandsvorsitzenden über Lehrer bis hin zu Großeltern, die für die berufstätigen Eltern die Kinderaufsicht übernehmen. Nicht zuletzt weisen auch die eher unempfindlichen Altersgruppen immer wieder schwere und sogar tödliche Verläufe auf, und auch Personen mit zunächst geringen Symptomen zeigen in vielen Fällen (geschätzt rund 30 %) lange andauernde Genesungsphasen. All das macht es recht schwierig, die Alternative zwischen „Krankheit eindämmen“ und „Wirtschaft schützen“ sinnvoll zu definieren bzw. entsprechende Abgrenzungen festzulegen.
Hinzu kommt ein Punkt, der in der Debatte meist unberücksichtigt bleibt. Dies liegt daran, dass sich die angeführte Alternative ausschließlich auf staatliches Handeln bezieht. Der Staat schlüpft dabei in die Rolle des Überfall-Opfers, das sich entscheiden muss. Doch ist bereits klar geworden, dass auch ein Verzicht auf den Schutz den Lebens beileibe nicht in der Lage ist, die Wirtschaft vor einer Krise zu bewahren. Dies liegt auch daran, dass es einen weiteren gewichtigen Akteur gibt, der ebenso einflussreich wie der Staat ist: die Bevölkerung.
Ein aktueller Report des Internationalen Währungsfonds (IWF; (https://www.imf.org/~/media/Files/Publications/WEO/2020/October/English/ch2.ashx?la=en) zeigt, dass die eigenständige Reaktion der Menschen auf die Pandemie, unabhängig von staatlichen Maßnahmen, einen wesentlichen Einfluss auf wirtschaftliche Aktivitäten hatte, indem das Selbstschutzverhalten der Menschen zu einem starken Rückgang von Interaktionen und auch deutlich weniger Nutzung von Dienstleistungen mit persönlichen Kontakten (z. B. Gastronomie) führte. Auch hier wird offensichtlich, wie eng Gesundheitsschutz und wirtschaftliche Prosperität zusammenhängen; ein Entweder-Oder gibt es nicht.
Gerade im Verhältnis von staatlichen Regeln und privater Vorsorge hat es in den letzten Monaten jedoch eine bedenkliche Entwicklung gegeben. In zunehmendem Maße wurde nämlich das persönliche Engagement und das richtige Verhalten der Menschen eingefordert, sie wurden dringend gebeten oder aufgefordert, diese und jene Vorsichtsmaßnahme anzuwenden. Was ist dabei das Problem?
Wenn wir die Pandemie als etwas verstehen, das jeden zum potentiellen Überträger wie Opfer macht und das unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Personen hat, dann lohnt sich ein Vergleich mit dem Straßenverkehr. Auch hier ist ein jeder potentieller Verursacher und Leidtragender von Unfällen mit jeweils nicht vorhersehbaren Auswirkungen. Aber gibt es hier Aufrufe führender Politiker, doch bitte Rücksicht zu nehmen, weniger Unfälle zu bauen („Kontakte zu reduzieren“), auf Autobahnen wenn möglich nicht die Gegenfahrbahn zu benutzen und bittebitte doch keine Autorennen im Innenstadtbereich durchzuführen? Selbstverständlich nicht. Und es treten keine hauptberuflichen Jugendversteher auf, die um Verständnis dafür bitten, dass Autorennen zum Erwachsenwerden gehören und damit als Menschenrecht zählen, wie es in der Pandemie für Parties gilt. Nicht zuletzt weist die StVO keine Dialogbereitschaft mit Personen auf, die Unfälle für nicht existent, für eine Erfindung von Reparaturwerkstätten oder eine Verschwörung von Freiheitsfeinden erklären.
Aber es gibt auch Parallelen. Die Gegner von Tempolimits und damit Befürworter von mehr Unfällen argumentieren mit der dadurch erzeugten höheren Attraktivität der deutschen Automobilwirtschaft; und die Verharmloser von Feinstaub aus Autoauspuffen heben hervor, dass man ja auch an anderen Unfällen sterben könne und Feinstaub aus vielerlei Quellen stamme. Doch die größte Gemeinsamkeit ist wohl die Verteidigung der Trittbrettfahrer, die vor dem Hintergrund, dass die meisten sich an die Regeln halten, die Regelübertretung mit dem Hinweis rechtfertigen, dass die geringe Anzahl an Toten und Verletzten/Kranken ja zeige, dass es gar nicht so schlimm sei, wenn sich manche nicht an die Regeln hielten.
Dieser Verzicht auf die eindeutige Definition von Regeln und deren rigorose Durchsetzung (und nicht bloß das mahnende Heben des Zeigefingers) hat das Trittbrettfahren populär gemacht, hat diejenigen zu nützlichen Idioten gestempelt, die im Frühjahr zum Sinken der Infektionsraten beigetragen haben. Und das macht wiederum den Unterschied aus zwischen dem Straßenverkehr und den aktuell rasant steigenden Infektionszahlen aus. Pandemieverkehrsordnung statt Notmaßnahmen: Das wär‘s gewesen.
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