Es gibt Sätze, die auf den ersten Blick als klug und tiefschürfend erscheinen, bei näherem Hinsehen aber banal und hohl sind. Und es gibt Sätze, die klug sind, aber auf eine banale Weise interpretiert werden, die ihnen nicht gerecht wird. Ein solcher Satz ist derjenige vom Schmetterling, dessen Flügelschlag in Ganzweitweg einen Wirbelsturm bei uns auslösen kann. Üblicherweise wird dieser Satz als Umformulierung der Platitüde, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können, verstanden, meist mit dem beschwörenden Unterton versehen, dass es darum gehe, eine aktuelle stabile Lage nicht durch unvorsichtiges Handeln zu gefährden, manchmal auch umgekehrt mit der Hoffnung verbunden, eine lähmende Situation durch kleine Aktionen auflösen zu können.
Diese Art der Interpretation des Satzes übersieht seine zentrale Vokabel: „kann“. Denn der Flügelschlag des Schmetterlings kann zwar einen Wirbelsturm auslösen, er kann aber auch gar nichts auslösen oder aber eine Windstille, die statt eines ohne Eingreifen des Schmetterlings entstandenen Tornados auftritt. Es scheint, als gehöre der Satz ebenfalls zur einleitend erwähnten Kategorie der tiefschürfend klingenden Banalitäten. Dem ist aber nicht so, wenn man sich den Ursprung bzw. den tatsächlichen Inhalt des Satzes vergegenwärtigt. Denn er fasst im Kern eine ganze Wissenschaftsrichtung zusammen, und zwar die sog. Chaos-Theorie oder Chaosforschung.
Diese beschäftigt sich nicht, wie oft vermutet wird, mit den Auswirkungen von zufälligen Ereignissen, also der Schaffung von Chaos durch Zufall, sondern untersucht im Gegenteil die Erzeugung von Chaos durch Faktoren, die durch streng deterministische Gleichungen beschrieben werden können. Dabei sind zwei Aspekte von chaotischen Ereignissen zu unterscheiden.
Zum einen geht es um dynamische Systeme, die nicht einmal besonders kompliziert sein müssen, um chaotische Ereignisse zu erzeugen. Ein besonders einfaches System dieser Art ist ein Doppelpendel, also ein Pendel, an dessen unterem Ende (z. B. am Gewicht) ein weiterer Pendel (ebenfalls mit einem Gewicht) angebracht ist. Wird dieser Pendel angestoßen, so vollführen die beiden Teilpendel innerhalb kürzester Zeit einen chaotischen Tanz von Ausschlägen und Umdrehungen. Wird ein zweiter, identischer Pendel mit einer nur infinitesimal abweichenden Kraft angestoßen, so vollführt er nicht nur ebenso chaotische Bewegungen, sondern diese Bewegungen unterscheiden sich radikal vom ersten Pendel. Beziehungsweise: können sich radikal unterscheiden. Ebendieser Unterschied ist es, der als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird, indem die Abweichung der Ausgangskraft zwar minimal, nichtsdestoweniger aber fundamental wirksam ist.
Der andere Aspekt ist, dass chaotische Ereignisse unter bestimmten Umständen die Eigenschaft haben, Muster zu erzeugen. Eine besonders auffällige Form von Mustern sind die sog. seltsamen Attraktoren. Darunter ist zu verstehen, dass manche chaotischen Systeme zwar chaotische Ereignisse erzeugen, dass sich diese Ereignisse aber immer in der Nähe einer bestimmten Ausprägung bzw. eines bestimmten Werts befinden.
Aus der Beschäftigung mit Populationsdynamik stammt ein einfaches Beispiel, um dies zu illustrieren. Hierzu geht man zuerst von einer Population von Pflanzenfressern aus, etwa kleinen Nagetieren, die in einem begrenzten Territorium leben und sich mit einer bestimmten Fortpflanzungsrate vermehren, bis das Maximum erreicht ist, weil die Nahrungsquellen nicht mehr Tiere erlauben. Existiert in diesem Territorium ein Fressfeind, der sich von den Nagetieren ernährt und einen von deren Anzahl abhängigen Teil frisst (für mathematisch Interessierte: hier kommt eine logistische oder Verhulst-Gleichung zum Einsatz), ergibt sich ein interessantes Bild: Beträgt die Vermehrungsrate der Nager weniger als 1, sinkt die Population der Tiere kontinuierlich, bis sie ausgerottet sind und die Fressfeinde sich nach einer neuen Nahrungsquelle umsehen müssen. Ist die Vermehrungsrate hingegen größer als 1, also z. B. 2, dann kommt es wegen der von der Zahl der Nagetiere abhängigen Zahl der Fressfeinde zu chaotischen Entwicklungen, die sich aber kontinuierlich einer Größe von ca. 66 % annähern und in deren Umfeld verbleiben. Wenn die Vermehrungsrate auf 2,5 steigt, kommt es zu anderen chaotischen Entwicklungen, die aber ebenfalls auf die Größe von 66 % hinauslaufen. Diese Zahl wird damit zu einem (seltsamen) Attraktor für das chaotische System der Populationsentwicklung mit einem Pflanzenfresser und einen Fressfeind.
Damit ist es aber des Seltsamen noch nicht genug. Denn wenn die Vermehrungsrate den kritischen Wert 3 erreicht, passiert etwas ganz Neues: Die chaotischen Schwankungen nähern sich nicht mehr einem Attraktor an, sondern springen nach einigen Zyklen von einem höheren Wert zu einem niedrigeren, um nach einigen Zyklen wiederum zum höheren zurückzukehren. Und je höher die Vermehrungsrate ist, desto mehr Attraktoren gibt es, bis bei einer Vermehrungsrate von 3,57 die Anzahl der Attraktoren unendlich wird und damit keine Muster der Ausbreitung mehr festzustellen sind.
Diese Prozesse, so muss noch einmal betont werden, sind nicht Ergebnis von zufälligen Ereignissen, sondern Resultat streng deterministischer, aber rekursiv wirkender Zusammenhänge. Sie existieren nicht nur bei Tierpopulationen, sondern sind auch in der Genetik, bei der Informationsverbreitung, in der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen anzutreffen.
Wem beim Hinweis auf die Vermehrungsrate von unter 3 und dem damit zusammenhängenden seltsamen Attraktor von 66 % ein aktuelles Thema einfällt, hat ein weiteres Feld der Anwendung dieses theoretischen Modells entdeckt; denn auch die Ausbreitung von Pandemien folgt dem geschilderten Muster. Egal, wie hoch die anfängliche Verbreitung eines Virus ist, er wird sich bei einer Reproduktionsrate von mehr als 1 und weniger als 3 solange weiter verbreiten, bis eine Ansteckungsquote von 60-70 % erreicht ist. Dem kann im wesentlichen nur mit einer Maßnahme begegnet werden, nämlich die Geschwindigkeit der Ausbreitung so lange zu reduzieren, bis durch eine Impfung die Vermehrungsrate auch ohne soziale Distanzierung usw. unter den kritischen Wert von 1 sinkt. Für andere Infektionskrankheiten, deren Vermehrungsrate bei 4 oder höher liegt, sind die Entwicklungen aufgrund der dann unvermeidlichen Ausbreitungsvorgänge ohne definierbaren Attraktor nicht mehr vorherzusagen. Hier gibt es je nach Schwere der Krankheit nur noch den Versuch der völligen Ausrottung per Impfung, wie es bei den Pocken vollständig und bei anderen Krankheiten wie Polio oder Masern zeitweise gelungen ist.
All das könnte uns der Schmetterling mitteilen, wenn wir nur zuhören wollten und ihn nicht ausschließlich für das Wetter verantwortlich machten.
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