Unsentimentale Anmerkungen zur Weltlage

Monat: Juli 2020

Schmetterlinge

Es gibt Sätze, die auf den ersten Blick als klug und tiefschürfend erscheinen, bei näherem Hinsehen aber banal und hohl sind. Und es gibt Sätze, die klug sind, aber auf eine banale Weise interpretiert werden, die ihnen nicht gerecht wird. Ein solcher Satz ist derjenige vom Schmetterling, dessen Flügelschlag in Ganzweitweg einen Wirbelsturm bei uns auslösen kann. Üblicherweise wird dieser Satz als Umformulierung der Platitüde, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können, verstanden, meist mit dem beschwörenden Unterton versehen, dass es darum gehe, eine aktuelle stabile Lage nicht durch unvorsichtiges Handeln zu gefährden, manchmal auch umgekehrt mit der Hoffnung verbunden, eine lähmende Situation durch kleine Aktionen auflösen zu können.

Diese Art der Interpretation des Satzes übersieht seine zentrale Vokabel: „kann“. Denn der Flügelschlag des Schmetterlings kann zwar einen Wirbelsturm auslösen, er kann aber auch gar nichts auslösen oder aber eine Windstille, die statt eines ohne Eingreifen des Schmetterlings entstandenen Tornados auftritt. Es scheint, als gehöre der Satz ebenfalls zur einleitend erwähnten Kategorie der tiefschürfend klingenden Banalitäten. Dem ist aber nicht so, wenn man sich den Ursprung bzw. den tatsächlichen Inhalt des Satzes vergegenwärtigt. Denn er fasst im Kern eine ganze Wissenschaftsrichtung zusammen, und zwar die sog. Chaos-Theorie oder Chaosforschung.

Diese beschäftigt sich nicht, wie oft vermutet wird, mit den Auswirkungen von zufälligen Ereignissen, also der Schaffung von Chaos durch Zufall, sondern untersucht im Gegenteil die Erzeugung von Chaos durch Faktoren, die durch streng deterministische Gleichungen beschrieben werden können. Dabei sind zwei Aspekte von chaotischen Ereignissen zu unterscheiden.

Zum einen geht es um dynamische Systeme, die nicht einmal besonders kompliziert sein müssen, um chaotische Ereignisse zu erzeugen. Ein besonders einfaches System dieser Art ist ein Doppelpendel, also ein Pendel, an dessen unterem Ende (z. B. am Gewicht) ein weiterer Pendel (ebenfalls mit einem Gewicht) angebracht ist. Wird dieser Pendel angestoßen, so vollführen die beiden Teilpendel innerhalb kürzester Zeit einen chaotischen Tanz von Ausschlägen und Umdrehungen. Wird ein zweiter, identischer Pendel mit einer nur infinitesimal abweichenden Kraft angestoßen, so vollführt er nicht nur ebenso chaotische Bewegungen, sondern diese Bewegungen unterscheiden sich radikal vom ersten Pendel. Beziehungsweise: können sich radikal unterscheiden. Ebendieser Unterschied ist es, der als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird, indem die Abweichung der Ausgangskraft zwar minimal, nichtsdestoweniger aber fundamental wirksam ist.

Der andere Aspekt ist, dass chaotische Ereignisse unter bestimmten Umständen die Eigenschaft haben, Muster zu erzeugen. Eine besonders auffällige Form von Mustern sind die sog. seltsamen Attraktoren. Darunter ist zu verstehen, dass manche chaotischen Systeme zwar chaotische Ereignisse erzeugen, dass sich diese Ereignisse aber immer in der Nähe einer bestimmten Ausprägung bzw. eines bestimmten Werts befinden.

Aus der Beschäftigung mit Populationsdynamik stammt ein einfaches Beispiel, um dies zu illustrieren. Hierzu geht man zuerst von einer Population von Pflanzenfressern aus, etwa kleinen Nagetieren, die in einem begrenzten Territorium leben und sich mit einer bestimmten Fortpflanzungsrate vermehren, bis das Maximum erreicht ist, weil die Nahrungsquellen nicht mehr Tiere erlauben. Existiert in diesem Territorium ein Fressfeind, der sich von den Nagetieren ernährt und einen von deren Anzahl abhängigen Teil frisst (für mathematisch Interessierte: hier kommt eine logistische oder Verhulst-Gleichung zum Einsatz), ergibt sich ein interessantes Bild: Beträgt die Vermehrungsrate der Nager weniger als 1, sinkt die Population der Tiere kontinuierlich, bis sie ausgerottet sind und die Fressfeinde sich nach einer neuen Nahrungsquelle umsehen müssen. Ist die Vermehrungsrate hingegen größer als 1, also z. B. 2, dann kommt es wegen der von der Zahl der Nagetiere abhängigen Zahl der Fressfeinde zu chaotischen Entwicklungen, die sich aber kontinuierlich einer Größe von ca. 66 % annähern und in deren Umfeld verbleiben. Wenn die Vermehrungsrate auf 2,5 steigt, kommt es zu anderen chaotischen Entwicklungen, die aber ebenfalls auf die Größe von 66 % hinauslaufen. Diese Zahl wird damit zu einem (seltsamen) Attraktor für das chaotische System der Populationsentwicklung mit einem Pflanzenfresser und einen Fressfeind.

Damit ist es aber des Seltsamen noch nicht genug. Denn wenn die Vermehrungsrate den kritischen Wert 3 erreicht, passiert etwas ganz Neues: Die chaotischen Schwankungen nähern sich nicht mehr einem Attraktor an, sondern springen nach einigen Zyklen von einem höheren Wert zu einem niedrigeren, um nach einigen Zyklen wiederum zum höheren zurückzukehren. Und je höher die Vermehrungsrate ist, desto mehr Attraktoren gibt es, bis bei einer Vermehrungsrate von 3,57 die Anzahl der Attraktoren unendlich wird und damit keine Muster der Ausbreitung mehr festzustellen sind.

Diese Prozesse, so muss noch einmal betont werden, sind nicht Ergebnis von zufälligen Ereignissen, sondern Resultat streng deterministischer, aber rekursiv wirkender Zusammenhänge. Sie existieren nicht nur bei Tierpopulationen, sondern sind auch in der Genetik, bei der Informationsverbreitung, in der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen anzutreffen.

Wem beim Hinweis auf die Vermehrungsrate von unter 3 und dem damit zusammenhängenden seltsamen Attraktor von 66 % ein aktuelles Thema einfällt, hat ein weiteres Feld der Anwendung dieses theoretischen Modells entdeckt; denn auch die Ausbreitung von Pandemien folgt dem geschilderten Muster. Egal, wie hoch die anfängliche Verbreitung eines Virus ist, er wird sich bei einer Reproduktionsrate von mehr als 1 und weniger als 3 solange weiter verbreiten, bis eine Ansteckungsquote von 60-70 % erreicht ist. Dem kann im wesentlichen nur mit einer Maßnahme begegnet werden, nämlich die Geschwindigkeit der Ausbreitung so lange zu reduzieren, bis durch eine Impfung die Vermehrungsrate auch ohne soziale Distanzierung usw. unter den kritischen Wert von 1 sinkt. Für andere Infektionskrankheiten, deren Vermehrungsrate bei 4 oder höher liegt, sind die Entwicklungen aufgrund der dann unvermeidlichen Ausbreitungsvorgänge ohne definierbaren Attraktor nicht mehr vorherzusagen. Hier gibt es je nach Schwere der Krankheit nur noch den Versuch der völligen Ausrottung per Impfung, wie es bei den Pocken vollständig und bei anderen Krankheiten wie Polio oder Masern zeitweise gelungen ist.

All das könnte uns der Schmetterling mitteilen, wenn wir nur zuhören wollten und ihn nicht ausschließlich für das Wetter verantwortlich machten.

Diskriminierung

Es war einmal – so beginnen zwar viele Märchen, aber auch manche Rückblicke auf lang Vergangenes – eine Zeit, in der Menschen sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wandten. Man bezeichnete sie als „Linke“. Aus mehreren Gründen, auch, aber nicht nur, weil die Methoden oder konkreten Umsetzungsziele der Linken unpopulär wurden, sind sie heute verschwunden. Eher traurige Überreste sammeln sich im sog. Schwarzen Block, mehr eine militante Karnevalsveranstaltung als ein zukunftsorientierter Gegenentwurf zu den aktuellen Gegebenheiten. Was bleibt?

Die meisten Menschen führen ihre alltäglichen Kämpfe nicht gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sondern um zu überleben oder – zumeist in den reicheren Länder – eine halbwegs sorgenfreie Existenz zu führen. Von diesem Befund weichen zwei überaus unappetitliche Sorten Mensch ab. Die eine Gruppe ist diejenige, die sich an der Demütigung der Unterprivilegierten erfreut und als Konsumenten etwa von Dokusoaps die Ausbeutung privatester Aspekte von menschlichem Leben (Hoffnungen, Sexualität u. a.) unterstützt und dabei von den Produzenten solcher Sendungen verlacht und verachtet wird. Und der besser situierte Mittelschichtsangehörige kann sich darüber erheben und Opfer wie Genießer solcher Formate als Unterschichtsfernsehen diffamieren. Er hat also auch etwas davon.

Eine besonders unangenehme Spezies ist aber wohl der Diskriminierungsgegner, insbesondere wenn er auch noch Identitätsziele betreibt. Zumeist wenig infiziert von politischem Bewusstsein, aber immer bereit, mit moralischer Verve die jeweils aktuelle Ungleichverteilung statistischer Kategorien auf gesellschaftliche Statusgruppen zu beklagen, ist er der ideale Begleiter und Immunisierer gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Dann beklagt er den zu geringen Anteil von Frauen in Führungspositionen, aber schweigt, wenn der oder die CEO die für die Profitmaximierung nicht mehr Tauglichen aus dem Unternehmen wirft; dann wird es zu einem Problem, dass überproportional viele Schwarze von Polizisten erschossen werden, aber mit keinem Wort, dass die Tötung von Menschen durch die Polizei fast grundsätzlich straffrei bleibt; dann wird von einer Enteignung indigener Kulturen durch die Übernahme entsprechender Stoffmuster durch die internationale Textilindustrie fabuliert, aber der Produktion von T-Shirts in süd(ost)asiatischen Sweatshops keinerlei Beachtung geschenkt. Ja, die Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen ist völlig in Ordnung, solange sie sich nur gleichförmig auf alle statistischen Gruppen, die nach Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Herkunft usw. usf. gebildet werden können, verteilen.

In den oberen Etagen könnte dies mit einem permanenten Knallenlassen der Sektkorken beantwortet werden. Da dies aber wohl zu auffällig wäre, gibt es einen gut orchestrierten Widerstand gegen allzu schnelle Umsetzungsformen der Gleichverteilungs- und Antidiskriminierungsbestrebungen, denn so kann weiterhin gut verschleiert werden, dass die tatsächliche Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung nicht dadurch erreicht werden kann, dass alle statistischen Gruppen dies in gleichem Maße erleiden.

Der Philosoph Robert Pfaller fasst es wie folgt zusammen: „Statt Kinderbetreuungseinrichtungen bekamen wir das Binnen-I, statt Chancengleichheit bot man uns »diversity«, und anstelle von progressiver Unternehmensbesteuerung erhielten wir erweiterte Antidiskriminierungsrichtlinien. Das entspricht dem Grundprinzip neoliberaler Propaganda: Alle Ungleichheit beruht demnach lediglich auf Diskriminierung. Sie ist nur ein Vorurteil, das sich durch liberale Gesinnung überwinden lässt; und nicht etwa ein Effekt starrer oder sich gar noch verhärtender Eigentumsverhältnisse.“ (taz.de/!169159)

Oder wie es der Soziologe Harald Welzer formuliert: „Merkwürdigerweise gilt diese Verschiebung vom sozialen auf das symbolische Unrecht sogar als „links“ oder „progressiv“, obwohl sprach- und einstellungspolizeiliche Ermittlungen doch genauso dem totalitären Formenkreis angehören wie die Figur des eifrigen Sammlers von Verfehlungen anderer, also des Denunzianten. Welcher gesellschaftliche Fortschritt sollte aus solcher selbstgemachter Repression in einer freien Gesellschaft entstehen? Das zivilisatorische Projekt der Moderne zentriert sich doch um die Herstellung von Verhältnissen, in denen man Menschen keine materielle Not leiden lässt und in denen man, mit Adorno gesprochen, ohne Angst verschieden sein kann. Dabei liegt die Betonung auf der Verschiedenheit und eben nicht auf einer symbolisch behaupteten Unterschiedslosigkeit. Aufklärung und Emanzipation bestehen ja gerade darin, dass Differenz anerkannt wird, aber politisch und rechtlich unerheblich ist. Gegenaufklärung ist, wenn jede Differenz symbolisch nivelliert wird, politisch aber kein Interesse an der Beseitigung von Ungleichheit besteht.“ (www.deutschlandfunkkultur.de/identitaetspolitik-eine-anti-aufklaererische-mode.1005.de.html?dram:article_id=455321)

Worum geht es also bei den Antidiskriminierungskampagnen? Im besten Fall um wohlfeile symbolische Aktivitäten, die die tatsächlichen Machtverhältnisse in keiner Weise tangieren, aber den Aktivisten ein wohliges Gefühl verschaffen; im schlechtesten Fall um eine Immunisierungsstrategie, die einzelne gesellschaftliche Gruppen gegeneinander hetzt, um alles beim Alten zu lassen.

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