Regelmäßige Leser des Blogs wissen, dass hier gerne ein aktuelles und/oder nebensächliches Ereignis aufgegriffen wird, um davon ausgehend grundsätzliche Themen anzusprechen. Im folgenden soll ein besonders weiter Weg eingeschlagen werden, auf dem es um bürgerliche Freiheiten, soziale Kontrolle und das (drohende) Ende der städtischen Zivilisation gehen wird. Zunächst aber geht es um Mülltonnen.
In den letzten Jahrzehnten kam es zu mehreren Urteilen, die sich mit der Klage von Hausbesitzern gegen die kommunalen Abfallentsorger beschäftigten. Die Käger wollten jeweils erreichen, keine Mülltonnen mehr erhalten und daher auch keine Müllgebühren zahlen zu müssen. Die Argumentation war in allen Fällen recht ähnlich: Da die Kläger nach eigenen Angaben Bioabfälle im eigenen Garten kompostierten und ansonsten streng auf die Vermeidung jeglichen Mülls achteten, benötigten sie keine Mülltonne und wollten daher auch nicht dafür zahlen. Die Gerichte wiesen die Klagen durchgängig mit dem Argument zurück, dass die Kläger diese Angaben schlüssig belegen müssten, um von der Mülltonnenpflicht befreit zu werden. Und tatsächlich war keiner der Kläger in der Lage zu belegen, dass er nie entsorgungspflichtigen Müll produzierte und dies auch in Zukunft nicht tun werde.
In diesen Gerichtsverfahren kollidieren zwei grundsätzliche Konzepte des gesellschaftlichen Zusammenlebens und sozialer Kontrolle. Die eine Seite bilden die Kläger, die nur für diejenigen Kosten zahlen wollen, die sie tatsächlich verursachen; sie wehren sich dagegen, damit auch für diejenigen zu zahlen, die tatsächlich Müll verursachen, der dann von der Abfallentsorgung abgeholt wird. Auf der anderen Seite steht die Kommune, die die Müllabfuhr gewährleisten muss und dies – bei normalen Haushalten – über eine Pauschale und einheitliche Mülltonnen realisiert.
Dieses Verfahren ist heute so allgemein und nicht auf Mülltonnen beschränkt, dass leicht vergessen wird, welch historisch neue Entwicklung sich dahinter verbirgt. Erst seit etwas mehr als hundert Jahren gibt es zumindest in den größeren Städten überhaupt eine systematische Müllentsorgung; in kleineren Städten und auf dem Land kam es erst viel später dazu. Und wo früher ein Wegezoll entrichtet werden musste, können heute Straßen frei benutzt werden (Ausnahme: Maut), unabhängig davon, wie oft oder überhaupt dies jemand tut. Schulen und Rundfunk existieren als kostenlose Bildungsgrundversorgung, und die Kranken- und Rentenversicherung verhindern, dass entsprechende Schicksalsschläge zur sofortigen Verelendung des einzelnen bzw. der Familie führen. Was diesen und vielen anderen Einrichtungen eigen ist, ist das besondere soziale Verhältnis, das sich dort abspielt. Es gibt nämlich keinen direkten Zusammenhang mehr zwischen denjenigen, die einzahlen, und denjenigen, die Nutznießer sind. Diejenigen, die einzahlen, bleiben anonym für diejenigen, die etwas erhalten – und umgekehrt.
Diese indirekte Beziehung der Menschen zueinander hebt persönliche Abhängigkeiten auf. Und sie ist ein zentrales Element dessen, was wir als städtische Zivilisation bezeichnen. Die Reduzierung persönlicher Abhängigkeiten war schon im Mittelalter der Kern dessen, was mit dem Slogan „Stadtluft macht frei“ ausgedrückt wurde. Nicht zuletzt ist auch Demokratie nur auf der Grundlage von Anonymität – Stichwort: geheime Wahlen – denkbar.
Die Reduzierung persönlicher Abhängigkeiten durch pauschalisierte und anonymisierte Regelungen trägt jedoch nicht nur zur Attraktivität von Städten bei, sie sind auch die Grundlage für deren höheres Ausmaß an Kreativität und Innovation. Der amerikanische Soziologie Mark Granovetter hat dies schon vor knapp 50 Jahren mit seiner Unterscheidung zwischen starken und schwachen Beziehungen („The Strength of Weak Ties“. In: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360–1380) herausgearbeitet, indem er unter anderem zeigt, dass in Strukturen mit eher losen Beziehungen wesentlich mehr Energie für andere Aspekte des Lebens als die Aufrechterhaltung, Pflege und Kontrolle enger, starker Bindungen zur Verfügung steht und somit kreative und produktive Verhältnisse geschaffen werden.
Dieses hier nur kurz angerissene Konzept moderner, städtischer Zivilisation steht seit Anbeginn in der Kritik. Waren es in der Frühzeit der Großstädte vor allem die traditionellen Eliten, die sich gegen die „gesichtslose Masse“ der Neubürger wandten und das Menetekel der Unkontrollierbarkeit der Städte an die Wand malten (was sich aktuell in der Warnung vor „Parallelgesellschaften“ wiederholt), so steht heute insbesondere das Modell des pauschalen Kosten-Nutzen-Ausgleichs (in der Sozialversicherung auch als Solidaritätsprinzip bezeichnet) im Zentrum der Kritik. Die Angriffe erfolgen dabei aus zwei Richtungen, die sich auf folgende Fragen reduzieren lassen: Warum muss ich für etwas zahlen, das (auch) ein anderer nutzt, obwohl er viel weniger oder gleich gar nichts dafür eingezahlt hat? Und: Warum muss ich für etwas zahlen, das ich gar nicht (oder wesentlich weniger als andere) nutze?
Beispiele für die zweite Variante sind etwa der anfangs skizzierte Fall der Mülltonnen, aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk oder die Krankenversicherung. Zu ersten Variante gehören z. B. die Ausländer-Maut oder alle Arten von Sozialhilfe, seien es Hartz IV-Leistungen, Kindergeld für EU-Ausländer oder die gesamte Flüchtlingshilfe.
In all diesen und vielen weiteren Fällen wird durchgängig die Gefahr des Missbrauchs und damit das Problem der Kontrolle thematisiert. Im Vordergrund steht dann die Frage, wie verhindert werden kann, dass jemand zu Unrecht Leistungen erhält oder für diese Leistungen keine entsprechenden Beiträge zahlen muss. Dieses Problem kann im Prinzip nur auf zwei Wegen gelöst werden: durch eine effektivere Kontrolle und durch das dargestellte Mittel der Pauschal-Beträge. Denn jeder Privathaushalt zahlt dann in der jeweiligen Gemeinde dieselben Müllgebühren, jeder zahlt in etwa dieselben prozentualen Krankenkassenbeiträge, jeder finanziert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – alles ohne Berücksichtigung des Ausmaßes der Nutzung. Die Pauschal-Lösung ist somit der Preis, den man zahlt, weil und damit keine Kontrolle stattfindet.
Das Ersetzen von Kontrolle durch Pauschbeträge ist jedoch nur recht eingeschränkt auf einen beabsichtigten Verzicht auf Kontrolle und damit den Vorzug von städtischen Freiheitsrechten zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um eine Praxis, die aus der schwierigen bis unmöglichen und vor allem sehr teuren Realisierung von Kontrolle resultiert. Dies ist auch der Hintergrund der eingangs erwähnten Urteile zur Mülltonnenproblematik. Heute würden diese Urteile aber vielleicht ganz anders ausfallen, zumindest wenn man aktuelle Entwicklungen heranzieht. Um nur ein Beispiel aus der als Vorreiter fungierenden Privatwirtschaft zu nennen: In den Supermärkten, die in den USA von Amazon betrieben werden (Amazon Go), kann man nur einkaufen, wenn man bei Betreten des Ladens auf dem mitgeführten Smartphone die entsprechende App startet. Daraufhin wird man via Gesichtserkennung den gesamten Aufenthalt im Geschäft über digital kontrolliert, bei Verlassen des Supermarkts gibt es auch keine Kassen mehr, sondern lediglich per App eine Mitteilung, was man eingekauft hat und welcher Betrag vom Konto abgebucht wurde. Nimmt man dies als Vorbild, kann auch das Problem der Mülltonnen gelöst werden; eine permanente Überwachung via Gesichtserkennung ermöglicht es dem Betroffenen, vor Gericht lückenlos zu belegen, dass er nie Müll produziert bzw. diesen als Biomüll im eigenen Garten verwertet hat. Und auch die Nicht-Nutzer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks können nun nachweisen, dass sie nie ein entsprechendes Radio- oder Fernsehprogramm empfangen. Nicht zuletzt können dann auch ungesunde Lebensweisen lückenlos erfasst und bei den Krankenkassenbeiträgen berücksichtigt werden; und vieles weiteres mehr.
Firmen wie Clearview (vgl. http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2020-01/gesichtserkennung-clearview-datenbank-fotos-algorithmen-datenschutz-privatsphaere), aber auch deutsche Behörden tragen mit der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum bereits aktuell die notwendigen Daten zusammen. Dass dies vom Prinzip her nicht so ganz neu ist, sondern eher eine Variante vormoderner Verhältnisse darstellt, ist auch einem Kommentator des Zeitungsartikels aufgefallen, wenn er lakonisch anmerkt: „Dystopisch? Das war früher immer so. Nennt sich Leben auf dem Dorf.“ (Quelle: s.o.)
Aus dieser Sicht ist es bedauerlich, dass manche Personen sich der automatisierten Erkennung noch entziehen. Abhilfe könnte die obligatorische Implantation eines RFID-Chips bringen. Und dann sind Gerichtsverfahren wie das geschilderte zu Mülltonnen endgültig bedeutungslos.
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