Wenn man sich mit Nation und Nationalismus beschäftigt, ist es sinnvoll, sich zunächst bewusst zu werden, dass Nation ein Differenzbegriff ist, d. h. den Unterschied zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit markiert. Das hat sie mit vielen anderen Begriffen gemeinsam. Interessant ist daher die Frage, wann und warum sie eine Leitdifferenz markiert.
Unter „Leitdifferenz“ ist dasjenige Kriterium zu verstehen, das in einer bestimmten Situation die wichtigste Unterscheidung vorgibt. So ist bei einem Fußballspiel etwa zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund für die Fans die Leitdifferenz, ob jemand Anhänger der einen oder der anderen Mannschaft ist. Ob ein Fan hingegen alt oder jung, männlich oder weiblich oder arm oder reich ist, spielt in dieser Situation keine Rolle. Bei der Partnerwahl hingegen ist die Leitdifferenz das Geschlecht des anderen, dessen Eigentumsverhältnisse, Interessen usw. sind sekundäre Qualitäten. Ein Blick auf Partnervermittlungsportale kann das problemlos bestätigen. Ein letztes Beispiel ist ein Arzt, bei dem nur eine Frage zählt: ob er (oder sie) eine entsprechende Ausbildung hat.
Die geschilderten Fälle betreffen Situationen, in denen die Leitdifferenz problemlos aus der jeweiligen Sachlage abgeleitet werden kann. Wenn aber genau dieser Zusammenhang zwischen Leitdifferenz und situationsgebundener Sachlage fehlt, wird es interessant, d. h. es stellt sich die Frage, wie dieses Problem gelöst werden kann. Um beim Beispiel der ärztlichen Versorgung zu bleiben, kann man sich den Fall eines weißen Rassisten vorstellen, der – schwer verletzt – vor der Alternative steht, einen dunkelhäutigen Arzt oder einen hellhäutigen LKW-Fahrer um Hilfe zu bitten. Wählt er die sachlich inadäquate Leitdifferenz, d. h. die Hautfarbe, als Entscheidungskriterium, könnte dies zum Ende aller weiteren Entscheidungsprobleme führen.
Ob eine Leitdifferenz in einer bestimmten Situation sachbezogen ist, ist jedoch keine überzeitliche Festlegung, sondern kann in verschiedenen Gesellschaften ganz unterschiedlich geregelt sein. Dies kann wieder am Beispiel des Arztes erläutert werden. So gab und gibt es Gesellschaften, in denen es weiblichen Ärzte nicht erlaubt ist, Männer zu behandeln, aber auch solche, in denen männliche Ärzte keine Frauen behandeln dürfen. In beiden Fällen ist es keine individuelle Entscheidung, ob im Bereich „Heilung“ die Leitdifferenz „Kompetenz“ lautet oder aber „Geschlecht“. Wenn in einer solchen Gesellschaft gefordert wird, doch der Kompetenz den Vorrang zu geben vor dem Geschlecht, bedeutet das, auf einem wichtigen sozialen Feld die Leitdifferenz zu wechseln.
Entsprechend dieser Überlegungen kann Nationalismus als ein Programm verstanden werden, das das Nationale in immer mehr Situationen zur Leitdifferenz machen will. Zwei Aspekte sind hier von Bedeutung: zum einen die Frage, welche Situationen als für das Nationale bedeutsam angesehen werden, und zum anderen die Frage nach der konkreten Form, die das Nationale dann annimmt.
Ein zumindest heute amüsantes Beispiel für die Antworten auf diese Fragen und damit die Setzung einer Leitdifferenz ist die Hochzeitsnacht des Diederich Heßling, wie sie von Heinrich Mann in seinem 1914 vollendeten Roman „Der Untertan“ geschildert wird:
Sein von Glück beschwingter Tatendrang litt keinen Aufschub, Guste hätte so viel Temperament nie erwartet. „Du bist doch nicht wie Lohengrin“, bemerkte sie. Als sie aber schon hinglitt und die Augen schloß, richtete Diederich sich nochmals auf. Eisern stand er vor ihr, ordenbehangen, eisern und blitzend. „Bevor wir zur Sache selbst schreiten,“ sagte er abgehackt, „gedenken wir Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, daß wir Seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.“
Wenn man in diesem Zitat den „Kaiser“ durch die „Nation“ ersetzt, hat man die heute wieder moderne Setzung der Leitdifferenz „Nation“ und deren Anwendung in einer dafür üblicherweise nicht geeigneten Situation. Die konkrete Form, die das Nationale hier annimmt, ist scheinbar überzeichnet; wohl die meisten Deutschen verzichten in einer solchen Situation auf das Tragen von Orden. Aber schon bei der Verwendung von Bettwäsche in den Nationalfarben dürfte die Ablehnung nicht mehr so einhellig sein. Daher sollen im folgenden drei Fragen beantwortet werden: Was sind unstrittige Situationen, in denen die Leitdifferenz „Nation“ auftritt? Für welche Situationen ist „Nation“ strittig, fordern nationalistische Bestrebungen die stärkere oder gar alleinige Nutzung der Leitdifferenz „Nation“? Und wie können diese Tendenzen auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückgeführt werden?
Exkurs:
An dieser Stelle scheint eine kleine Anmerkung angebracht. Man könnte sich fragen, weshalb hier von Leitdifferenz gesprochen wird, gibt es doch mit der – z. B. nationalen – „Identität“ eine wesentlich bekanntere und vielfach verwendete Vokabel. Nun, die Vermeidung des „Identitäts“-Begriffs liegt darin begründet, dass er v. a. aufgrund seiner Herkunft aus der Entwicklungspsychologie suggeriert, eine Äußerung von nationaler Identität (vulgo: Nationalismus) sei Ausdruck einer inneren, psychischen Verfasstheit, ja noch mehr: dass alle ähnlichen Äußerungen ihre Entsprechung in ähnlichen psychischen Vorgängen hätten. Dies mag manchmal so sein, übersieht aber auch ganz andere Faktoren nationalistischer Äußerungen: Provokation, Karriereplanung, Anpassung usw. usf. Ein Verständnis von Nationalismus als Inhalt von Äußerungen mit Hilfe des „Leitdifferenz“-Begriffs an Stelle von „Identität“ ist daher dem Thema eher angemessen.
Am einfachsten ist die Antwort auf die erste Frage, wann „Nation“ unstrittig ist, wenn man sie wie im Englischen versteht: als Staat (vgl. a. UNO = Vereinte Nationen) und daraus abgeleitet Nationszugehörigkeit als Staatsangehörigkeit. „Nation“ ist dann der Sammelbegriff für die Bürger eines Staates, sie zeigt an, wer etwa in einem demokratischen Staat bei Wahlen über die Ausrichtung der Politik bestimmt. Wer in diesem Sinne zur „Nation“ gehört, ist z. B. von ausländerrechtlichen Einschränkungen befreit, kann aber auch zum Militär eingezogen werden. All diese Aspekte von Nation sind unproblematisch, da sie die Leitdifferenz direkt markieren und sie insofern lediglich verdoppeln.
Ganz anders sieht es dann aus, wenn mit „Nation“ neben der Staatsangehörigkeit die Hautfarbe, kulturelle Merkmale und identifikatorische Inszenierungen verbunden werden. Dann kann zwischen echten und unechten Nationsangehörigen unterschieden werden, ist dieses „deutsch“ und jenes „undeutsch“ – jeweils verbunden mit der Demonstration von Zugehörigkeit, etwa dem Schwenken von Fahnen, dem lautstarken Bekenntnis, stolz auf das „Deutsch-Sein“ zu sein, oder eben der Begründung für die sexuelle Annäherung.
Die Differenzierung bezieht sich manchmal mehr noch als auf den Gegensatz zum Ausländer auf den Gegensatz zum undeutschen Deutschen, zum dermatologisch oder kulturell Anders- und Fremdartigen deutscher Staatsbürgerschaft. Die Leitdifferenz hat dann zwei Elemente: zum einen behauptet sie die Gleichheit aller „echten“ Nationsangehörigen, zum anderen formuliert sie eine Hierarchie; je „nationaler“, also z. B. kulturell eindeutig als zugehörig definierbarer jemand ist, eine desto höhere soziale Position steht ihm zu. Nur für „echte“ Nationsangehörige sind dann soziale Privilegien vorgesehen, alle anderen haben mit Zurückstufungen, Sanktionen und im Extremfall – etwa bei der Ausweisung von Flüchtlingen in Kriegsgebiete – mit der Tötung zu rechnen. Die Antwort auf die zweite Frage lautet also, dass es prinzipiell keine Situationen gibt, für die Nation nicht als Leitdifferenz eingefordert werden kann. Nationale Zugehörigkeit als Voraussetzung für einen Arbeitsplatz gehört ebenso dazu wie die Propagierung „nationaler“ Kunst und damit die Förderung entsprechender Künstler usw.
Diese Privilegien stehen seit Jahren von zwei Seiten unter Druck. Zum einen ist dies die neoliberale Ideologie, wie von Margaret Thatcher mit dem Ausspruch „Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur Individuen und Familien“ idealtypisch formuliert wurde. Nach diesen Vorstellungen stehen alle Individuen – abgesehen von ihren Verwandten – allein in der Welt und in permanenter Konkurrenz miteinander. Größere soziale Zusammenhänge werden abgelehnt, die Zerschlagung etwa von gewerkschaftlicher Macht ist die eine Konsequenz, der ungebremste Machtzuwachs von Unternehmen die andere.
Zum anderen wird die Nation als Leitdifferenz von neuen kulturellen Leitdifferenzen bedroht. Dazu gehören die Leitdifferenzen Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion, Verzehrgewohnheiten usw. und die fast unübersehbare Zahl von Mobilisierungen sich irgendwie beleidigt fühlender Menschen.
Beide Entwicklungen getrennt hätten wahrscheinlich kaum zur Revitalisierung der Leitdifferenz Nation geführt. Erst ihre Koalition – die Kommerzialisierung sexueller etc. Merkmale einerseits und das radikale Marketing individueller Interessen andererseits – hat der Nation wieder zur Renaissance verholfen, als Form einer autoritären Rekollektivierung gesellschaftlicher Verhältnisse und Wiederherstellung traditioneller sozialer Hierarchien. Insofern ist die Leitdifferenz Nation auf dem – bei weitem noch nicht vollendeten – Rück-Weg zur gesellschaftlichen Norm, was unterschiedliche Perspektiven aufweist, die aber alle kaum als positiv zu bewerten sind. Aber wenn die einzigen Alternativen Nationalismus oder neoliberales Befindlichkeitsmanagement lauten, sind die Aussichten insgesamt eher düster.
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