In einer Organisation, deren Mitglied ich bin, ist in der Satzung festgeschrieben, dass in den einzelnen Gremien „mindestens ein Drittel der Mitglieder … dem weniger vertretenen Geschlecht angehören (sollen)“. Sowohl die Logik dieser Bestimmung als auch die tatsächlichen Praxis zeigen, dass unter „Geschlecht“ die naturalistische Aufteilung der Menschheit in „Männer“ und „Frauen“ gemeint ist, nicht aber eine Zuordnung zu einem selbst bestimmten Geschlecht, wie es in der Gender-Debatte formuliert wird. Aber auch unabhängig von der genauen Definition von Geschlecht geht es im zitierten Beispiel um einen Proporz (oder auch: eine Quote), d. h. um die Festlegung, welche Menschenkategorien in welchem Umfang in bestimmte Positionen gelangen sollen. Im folgenden möchte ich mich mit dem Warum“ bzw. „Wozu“ beschäftigen, d. h. mit der Frage, welches Gesellschaftsverständnis sich hinter einem Proporz verbirgt.
Als erstes soll ein Argument, das von Proporzgegnern gerne vorgebracht wird, kurz angesprochen und dann abgehakt werden: Menschen sollten in bestimmte Positionen aufgrund von Leistung gelangen, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer unterrepräsentierten Personengruppe. Wenn man sich nun ansieht, wie viele Firmen, die Bankrott anmelden mussten, oder wie viele Staaten, die sich selbst ins politische Abseits stellten, von Männern geführt wurden bzw. werden, gibt es kaum Gründe anzunehmen, dass Frauen es wesentlich schlechter gemacht hätten. Und auch im Fall der – scheinbar – positiven Rolle einer männlichen Führungsperson ist nach allen einschlägigen Untersuchungen nicht davon auszugehen, dass Frauen weniger Erfolg gehabt hätten. Aus der Warte des Ergebnisse – wegen mir: der Leistung – spricht also nichts gegen Quotierungen.
Etwas anders sieht es aus, wenn man sich damit beschäftigt, welche Kategorisierungen von Menschen sich als Proporz materialisieren. Zunächst aber sind zwei Merkmale von Quotierungen hervorzuheben: Zum einen bedeutet eine Quote, dass die dadurch erzeugte Bevorzugung einer Personengruppe notwendigerweise die Benachteiligung einer anderen Gruppe nach sich zieht. Zum anderen geht es bei der Festlegung eines Proporzes immer um sozial hervorgehobene Positionen; für Unterschichtsberufe gibt es hingegen keine Quoten. Aus dieser Perspektive ist es sehr auffällig, dass nicht alle Personengruppen, die etwa in Führungspositionen unterrepräsentiert sind, durch die Einführung einer Quotierung gefördert werden sollen. Anders herum: Die Förderung bzw. Benachteiligung von Personengruppen bezieht sich auf ganz bestimmte Kategorien, deren Bedeutung historisch überaus wandelbar ist.
Ein paar Beispiele sollen dies illustrieren: Im Jahre 1920 war die ungarische Regierung der Meinung, dass zu viele Juden an den Hochschulen studieren, deshalb wurde durch die europaweit ersten antisemitischen Gesetze eine Quotierung von maximal 5 % Juden an den Hochschulen festgesetzt; in den 1930er Jahren wurde dies auf andere soziale Positionen (freie Berufe, Verwaltungen, Handel, Industrie) ausgeweitet. In der DDR war viele Jahre lang der Zugang zu einer akademischen Ausbildung Abkömmlingen aus der „Arbeiterklasse“ vorbehalten, während Kinder „bürgerlicher“ Eltern davon ausgeschlossen waren. Die „affirmative action“ in den USA setzt sich seit den späten 1960er Jahren das Ziel, einzelne ethnische bzw. Rassen- (Schwarze, Hispanics) und Gender-Kategorien (insbesondere Frauen) zu fördern. Im italienischen Südtirol wiederum hängt es von der Muttersprache ab, ob jemand Chancen auf eine bestimmte Stellung im öffentlichen Dienst hat.
So viele Personen-Kategorien bisher auch zu Quoten geronnen sind, noch viel mehr fanden bisher keine entsprechende Berücksichtigung. Es könnte etwa darauf hingewiesen werden, dass kleinere Menschen ebenso schlechtere Karrierechancen haben wie Menschen mit bestimmten Vornamen (Kevin, Schantall) oder mit Migrationshintergrund. Und auch der deutliche Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Herkunftsfamilie und dem eigenen Bildungsweg könnte die Forderung nach Quotierung des Hochschulzugangs nach sich ziehen – was aber nicht geschieht.
Betrachtet man diese Diskrepanzen zwischen realisierten oder zumindest angestrebten Proporzen einerseits und der Vielzahl gesellschaftlicher Ungleichgewichte andererseits, lassen sich aus den aktuellen Quotierungen Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Gesellschaftsbild ziehen. Im wesentlichen sind es wohl zwei Varianten:
Die erste Variante findet sich im Kommentar „Neue Typen braucht der Film“ in der Süddeutschen Zeitung vom 6.3.2018 (S. 4) über die diesjährige Oscar-Verleihung und die dort artikulierte Klage, Frauen hätten kaum eine Chance, Kameraleute zu werden. Daran schließt sich die Forderung der Autorin an, „dass tatsächlich alle darauf hinarbeiten, die Arbeit hinter der Kamera gerechter unter allen Bevölkerungsgruppen zu verteilen.“ Was unter „allen Bevölkerungsgruppen“ zu verstehen ist, wird mit dem Hinweis auf tragende Figuren aktueller Filme erläutert: „eine gehörlose Putzfrau, eine zornige Mutter mittleren Alters, ein junger Schwarzer, dem die Eltern seiner weißen Freundin Angst machen.“ Eine gerechte Welt ist demnach offensichtlich dann erreicht, wenn nicht nur einzelne Personenkategorien nach ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in wichtigen Positionen anzutreffen sind, sondern auch entsprechende Merkmalskombinationen. Das bezieht sich dann nicht nur auf gehörlose Putzfrauen oder mittelalte Mütter, sondern auch auf kleinwüchsige Sachsen oder homosexuelle Schantalls und sogar auf die Kombination all derartiger Kombinationen.
Die zweite Variante ist die heute dominante: Wenn ein Geschlechtsproporz gefordert wird, aber keiner der sozialen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu anderen Merkmalsgruppen, dann heißt das schlicht, dass die Ungleichverteilung sozialer Positionen im Hinblick auf das betreffende Merkmal – hier: Geschlecht – wichtiger ist als bei anderen Kategorien, vielleicht sogar das einzig wichtige gesellschaftliche Unterscheidungskriterium ist. Mit alt-marxistischem Vokabular könnte man auch formulieren, dass – im vorliegenden Fall – die Geschlechtsdifferenz einen gesellschaftlichen Hauptwiderspruch repräsentiert, während andere Differenzen lediglich sekundäre oder abgeleitete Widersprüche abbilden.
Beiden Varianten liegt insgesamt dieselbe Gesellschaftskonzeption zugrunde: Unterschiede sozialer Positionen nach einer oder mehrerer Kategorien sollen mit Mitteln staatlicher Machtausübung reduziert, wenn nicht gar eliminiert werden. Strittig ist dann nur noch, ob zu viele Juden an den Hochschulen sind oder zu wenig Frauen in den Führungsriegen von Politik und Wirtschaft. Das Gesellschaftsbild ist in allen Fällen jedoch identisch.
Schreibe einen Kommentar