Aktuell existieren zwei öffentlich debattierte Konzepte des „Zusammenlebens“ in Deutschland: die „Leitkultur“ und die „Demokratie“, letztere zumeist im Rückgriff auf das Grundgesetz. Die „Leitkultur“, gerne von konservativen Politikern und Publizisten vorgebracht, leidet unter zwei Problemen: Zum einen ist dies ihre Unbestimmtheit, ja Beliebigkeit. So fällt etwa in der vor einiger Zeit publizierten Liste des deutschen Innenministers nicht in erster Linie auf, was dort – unter gewöhnungsbedürftiger Anwendung der deutschen Grammatik – als Elemente von „Leitkultur“ aufgezählt wird, sondern was darin fehlt. Offensichtlich ist etwa das morgendliche Zähneputzen oder das Händewaschen nach dem Toilettengang kein Bestandteil deutscher „Leitkultur“; warum das so ist, müsste man Personen aus dem Umfeld des Ministers fragen.

Das zweite Problem baut auf dem ersten auf: Denn auch wenn eine vollständige Aufzählung der Merkmale von „Leitkultur“ vorliegt, ist nicht geklärt, wozu eine solche Liste gut sein sollte. Soll sie zur unverbindlichen Selbstverpflichtung dienen (wie es etwa die pseudo-alpine Verkleidung der Besucher des Münchner Oktoberfests ist) oder handelt es sich um die Vorstufe gesetzlicher Vorschriften? Diese Frage muss hier offenbleiben.

Die Kritiker der „Leitkultur“ formulieren als alternative Grundlage eines gedeihlichen Zusammenlebens das Bekenntnis zur Demokratie, das sich auf das Grundgesetz bezieht. Leider scheint es, als hätten die Vertreter dieser Position das Grundgesetz nie gelesen, und noch wichtiger: eine eher diffuse Kenntnis dessen, was „Demokratie“ ist und was das Grundgesetz dabei für eine Rolle spielt. Im folgenden daher einige Erläuterungen, deren zentrale Inhalte auch im gut sortierten Sozialkundeunterricht vermittelt werden.

Eine Demokratie ist (ein Sammelbegriff für) eine Herrschaftsform, d. h. ein Typus von Machtausübung. (Politische) Macht wiederum bedeutet, dass die Mächtigen, die Herrschenden andere ungestraft dazu zwingen können, dieses zu tun und jenes zu lassen, sei es Steuern zu zahlen, sei es, andere nicht nach Belieben niederzuschlagen, sei es, in die Schule zu gehen oder Soldat zu werden. All das wird auch mit physischer Gewalt (letztlich durch Polizei und/oder Militär) durchgesetzt.

Was hat das mit dem Grundgesetz zu tun? Das Grundgesetz definiert – wie andere Verfassungen auch – die Organisation und den Umfang staatlicher Herrschaft. Somit definiert sie das Verhältnis von Herrschaft und Beherrschten, das Verhältnis von Staat und Bürgern. Diese Definition dient seit den ersten Anfängen von Verfassungsgebungen nur einem wesentlichen Zweck: der Beschränkung staatlicher Willkür und damit dem Schutz der Bürger vor den Herrschenden. Indem die Verfassung festlegt, wie ein Herrschaftssystem organisiert ist und welche Macht es über die Bevölkerung hat, schränkt es diese Macht ein und steckt die Freiheitsräume für die einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Organisationen (Unternehmen, Vereine usw.) ab.

Aus dieser Perspektive ist es rätselhaft, ja nachgerade blühender Unsinn, eine Verfassung wie das Grundgesetz als Richtschnur für das Zusammenleben der einzelnen Bürger zu betrachten. Wenn Politiker derartiges äußern, kann das noch als déformation professionnelle, als unangemessene Übertragung des eigenen Berufsumfeldes auf die gesamte Gesellschaft interpretiert werden; dass Medien derartigen Nonsens unkritisch verbreiten, ist hingegen bedenklich und führt zu der Frage, woher diese umstandslose Identifikation mit einem Herrschaftssystem kommt.

Zunächst ist es gut nachvollziehbar, dass jemand die Demokratie einer feudalen Adelsherrschaft oder einer Diktatur vorzieht. Zugleich zeigen die aktuellen Entwicklungen in zahlreichen Demokratien, dass viele Menschen eine alternative Herrschaftsform mit meist polizeistaatlicher oder völkisch-faschistischer Ausrichtung favorisieren. Diese unterschiedlichen Einstellungen könnten zu einer Debatte über die Vor- und Nachteile (besser: die Vor- und Nachteile für wen?) einer bestimmten Herrschaftsform Anlass geben und eine sachliche Abwägung stimulieren.

Aber derartiges ist weder üblich noch erwünscht. Stattdessen dominiert bei den Anhängern des jeweiligen Herrschaftssystems eine zumeist recht hysterische Identifikation mit den Herrschenden. Wenn etwa in einer hartleibigen Diktatur wie Nordkorea der Staatschef stirbt, ist die öffentlich artikulierte Trauer nur zum Teil auf Zwang und Anpassung zurückzuführen, sondern resultiert auch aus tatsächlichen Gefühlen. Und wenn – wie während des Hamburger G20-Gipfels – 20.000 Polizisten Teile einer Großstadt besetzen und die dortige Bevölkerung zur Geisel der mächtigsten Personen der Weltpolitik wird, spricht kaum jemand von einer Gefährdung der Demokratie, die es nun zu verteidigen gelte; stattdessen werden Krawalltouristen zur Bedrohung der Demokratie stilisiert, gegen die auch – hierzulande verbotene – Gummigeschosse eingesetzt werden dürfen und die zu jagen sich Presseorgane und Facebook-Nutzer aufmachen. Diese Verschiebung aller Maßstäbe, die umstandslose Identifikation von Bürgern mit staatlicher Herrschaft ist daher der zentrale Punkt, der bei jeder Betrachtung des Funktionierens eines Herrschaftssystems analysiert werden muss.

An dieser Stelle soll der Hinweis auf ein psychologische Phänomen, das sog. Stockholm-Syndrom, das die Identifikation von Geiseln mit den Geiselnehmern beschreibt, genügen. Selbstverständlich bedarf es einer gründlichen, spätestens in der Schule beginnenden Gewöhnung an die Verhältnisse und gelungener Inszenierungen, um diesen Zusammenhang unsichtbar werden zu lassen; aber es bedarf auch der Bereitschaft der Menschen, sich mit dem jeweiligen Herrschaftssystem und nicht mit dem Widerstand dagegen zu identifizieren. Und dass eine solche Bereitschaft existiert, ist alltägliche Realität. Realität ist aber auch, dass eine besinnungslose Loyalität zu einem gegebenen Herrschaftssystem (und sei es die Demokratie) das am wenigsten geeignete Instrument ist, seiner Machtausweitung gegenüberzutreten.