Wenn es heute darum geht, dass z. B. der ungarische Staat ankommende Flüchtlinge misshandelt, dann heißt es häufig, dass die Menschenwürde mit (ganz konkreten) Füßen getreten werde. Die Empörung darüber speist sich aus der Vorstellung, dass dort grundsätzliche, europäische oder sonstwie verortete Werte verletzt werden. Werte sind die letztgültige moralische Grundlage menschlichen Handelns, die sich Gesellschaften als Selbstdefinition wählen – wie dies etwa auf die Menschenwürde zutrifft, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als zentrale Richtschnur staatlichen Handelns definiert wird. Etwas weniger grundsätzlich, mehr der Alltagspraxis verpflichtet sind die damit im Zusammenhang stehenden Normen, die z. B. in Gesetzen konkretisiert werden; zu nennen wäre hier unter anderem die unterlassene Hilfeleistung, die eine Straftat ist. Die aktuellen Auseinandersetzungen über den Umgang mit Flüchtlingen, denen von manchen die Menschenwürde abgesprochen wird und denen gegenüber unterlassene Hilfeleistung keine Straf-, sondern eine Heldentat ist, künden demnach durch in ihrer Vehemenz von einem Konflikt um Werte und Normen.

Dabei geht es um zwei Fragen: Welche Werte sollen gelten bzw. welche Normen sollen zu gesellschaftlicher Praxis werden? Und für wen gelten diese Werte und Normen?

Diese Fragen enthalten bereits den Hinweis, dass einzelne Gesellschaften sich ganz unterschiedliche Antworten darauf gegeben haben. Ein – zugegebenermaßen stark vereinfachter Blick – auf vormoderne Gesellschaften der Neuzeit zeigt eine Aristokratie, für die Werte wie Würde, Ehre und ähnliches an erster Stelle stehen, während das einfache Volk sich nach der Freiheit von Bevormundung und Unterdrückung sehnt. Mit der Entstehung der modernen demokratischen Gesellschaften kommt es notwendigerweise zu einer innergesellschaftlichen Vereinheitlichung der Werte, jedoch mit deutlichen Unterschieden zwischen den Gesellschaften. In den alteuropäischen Gesellschaften werden die aristokratischen Werte zu allgemeinen Werten; die erwähnte Bedeutung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz zeugt davon. In den USA hingegen findet eine Konzentration der Werte auf die Orientierung der Unter- und Mittelschichten statt, d. h. auf das unhintergehbare Recht von Individuen, ihr Glück zu machen („pursuit of happiness“). Beide Wertorientierungen bieten an sich eine tragfähige Grundlage für den Umgang mit Flüchtlingen: ihnen zu helfen als Akt der Realisierung menschlicher Würde oder ihnen zuzugestehen, dass sie alles tun, um ihre Situation zu verbessern. Dass beides heute in Frage gestellt wird, ist daher nicht das Resultat auf die Frage, welche Werte gelten sollen, sondern auf die Frage, für wen diese Werte gültig sind.

Für vormoderne Gesellschaften ist eine entsprechende Selektivität der Normalfall. Wenn im antiken Griechenland alle Nicht-Griechen zu rechtlosen „Barbaren“ erklärt werden, wenn der europäische Kolonialismus die Einwohner Afrikas und Amerikas zu „Wilden“ macht, die straflos versklavt und zum Opfer von Menschenjagden gemacht werden können, dann ist offensichtlich, dass die Werte der einen nicht für die anderen gelten. Auch Demokratien sind vor solcher Ungleichheit nicht gefeit; so bezog sich die Gleichberechtigung aller Bürger in den Vereinigten Staaten des 18. und im Großteil des 19. Jhs. nicht auf die Sklaven, und die gesellschaftliche Gleichwertigkeit von Frauen wurde weltweit noch deutlich später anerkannt. Erst mit der Durchsetzung der Moderne wurde die Werte universell, d. h. gelten innerhalb einer Gesellschaft für alle gleichermaßen. Und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 wird sogar eine globale Gültigkeit von Werten verkündet. Damit – so scheint es – ist zumindest auf der deklaratorischen Ebene die Moderne vollendet.

Aus dieser Sicht sind Phänomene wie der Rassismus des Nationalsozialismus mit seiner Entmenschlichung von „Juden“ und „Zigeunern“ Zeichen einer noch nicht vollzogenen Moderne, die dann erst nach 1945 ihren Einzug in Deutschland hält. Aber was ist dann mit den aktuellen Vorkommnissen in der Flüchtlingsfrage, wenn etwa die dänische Integrationsministerin (!) meint, Dänemark könne viele Flüchtlinge aufnehmen, „aber da sehe ich einfach keinen Grund zu“ (http://www.tagesschau.de/ausland/marchofhope-103.html)? Und kann man allen Ernstes behaupten, Ungarn behandle die Hilfesuchenden auch nur im Entferntesten wie Menschen? Auch die Hasspostings und die Brandanschläge in Deutschland lassen vermuten, dass die Moderne mit ihren universalistischen Werten doch weniger weit verbreitet ist als allgemein vermutet.

Es wäre sicherlich fehl am Platze, solche Einstellungen als Überbleibsel des 19. Jahrhunderts oder gar als Ausdruck primitiver Hordenreflexe zu interpretieren – was auch daran liegt, dass seit Jahren in vielen europäischen Ländern die rassistische Exklusion auch der eigenen Staatsbürger (so etwa der Roma in Osteuropa) nicht zurückgeht, sondern immer weiter um sich greift. Vielmehr dürfte es sich um Wert-Verschiebungen zu handeln, die mit Veränderungen der modernen Gesellschaft selbst zusammenhängen. Als mögliche Erklärungsperspektiven bieten sich Stichpunkte wie Neoliberalismus oder Postdemokratie (vgl. Colin Crouch) an; aber das ist bereits eine andere Geschichte. Nur eines soll festgehalten werden: An der Flüchtlingsfrage entscheidet sich nicht alleine, aber auch, welche Bedeutung die Moderne und ihr universalistisches Wertsystem in unserer und den anderen Gesellschaften (noch) haben.