Von Adorno stammt der Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Damit bezog sich der Mitbegründer der Kritischen Theorie auf Versuche, in einer ungerechten Gesellschaft im Privatleben von den Auswirkungen dieser Gesellschaft unberührt zu bleiben, im „falschen“ Leben eine private Enklave zu schaffen, in der ein „richtiges“ Leben geführt werden kann. Solchen Versuchen gibt er mit seinem Ausspruch keine Realisierungschance.
Nun muss man den Überlegungen eines toten Philosophen nicht unbedingt zustimmen; aktuellen Formen eines „richtigen“ Lebens, hier: eines „richtigen“ Essens, ist fast durchgängig gemeinsam, dass sie die Möglichkeit eines privat richtigen Lebens nicht nur bejahen, sondern auch für dessen Verwirklichung werben.
Es gibt mittlerweile eine unüberschaubare Menge an Ernährungskonzepten, die teilweise mit großen Versprechungen, aber auch großen Ansprüchen an die (potentiellen) Nutzer verbunden sind. Das reicht von der Vollwertkost über die Sauerkraut-, Mondphasen- oder Brigitte-Diät bis zu LowCarb- und LowFat-Diäten; es gibt traditionelle, oft religiös fundierte Essensvorschriften oder ‑verbote und moderne, gesundheitsorientierte Ernährungspläne. Auch Phänomene wie der Kannibalismus, sei es in der Erinnerung an fremde und längst vergangene Kulturen, sei es in der Symbolform der christlichen religiösen Praxis, können hierzu gezählt werden.
Die Zwecke dieser Diäten sind weit gestreut. Es geht darum, schlank zu werden, schöner, jünger oder gesünder, sich also um seine Selbstoptimierung zu kümmern; es kann aber auch beabsichtigt sein, das bei falscher Ernährung drohende Strafgericht des eigenen Körpers, der Natur oder einer zürnenden Gottheit zu vermeiden. Ein Merkmal ist all diesen Diäten jedoch gemeinsam: Obwohl sie oft in kollektiver Form ausgeübt werden – von Freundeskreisen über kommerzielle Organisationen (etwa: Weight Watchers) bis hin zu weltanschaulichen oder religiösen Gruppen –, bleiben sie im wesentlichen individuenzentriert: Es geht um das eigene, private körperliche oder Seelen-Heil.
Insofern sind Diäten und die ihnen innewohnenden Versprechungen sich selbst genug, sie haben keinen anderen Zweck als das zu sein, was sie sind: Instrumente der bestmöglichen Gestaltung des eigenen Lebens. Dieses Versprechen wird zwar im Regelfall nicht erfüllt, statt dessen füllen sich die Kassen der Anbieter von Diäten. Das soll hier aber nicht weiter interessieren, denn es bestätigt ja nur den oben zitierten Ausspruch Adornos. Vielmehr soll eine Diät diskutiert werden, die – anders als bisher beschriebenen – zwar aus Essensvorschriften besteht, aber von den meisten Anwendern in erster Linie als Form eines ethisch fundierten gesellschaftspolitischen Engagements, als Weltverbesserung verstanden wird.
Es geht um die Vegetarier und – als deren verschärfte Unterarten – die Veganer, Fruktarier und ähnliche. Dabei gilt: Je schwieriger es ist, sich einigermaßen ausgewogen zu ernähren, desto wichtiger ist das selbst deklarierte moralisch-politische Element der jeweiligen Diät. Das bemerkt man zunächst auf der persönlichen Ebene: Bei einer Einladung ist es meist einfacher, einen Anhänger der Abnehm-Fraktion zu verköstigen, der einfach weniger isst oder seine Diät für den Abend unterbricht, als einen Veganer, der dem Gastgeber eine detaillierte Liste mit Diätvorgaben vorlegt, bevor er überhaupt erwägt, die Einladung anzunehmen. Das kann solange als lediglich besonders ausgeprägte Form, sich in den Mittelpunkt zu stellen, verstanden werden, als nicht auch ausführliche Begründungen für das Veganertum mitgeliefert werden. Der negative Höhepunkt eines solchen Messianismus ist üblicherweise der Verweis auf die Tierliebe, die vielleicht unappetitlichste Form der Selbstliebe. Selbstoptimierung bedeutet hier nicht, schöner oder schlanker zu werden, sondern ein besserer Mensch zu sein. Aber all das kann prinzipiell noch auf Verhaltensdefizite des Betroffenen zurückgeführt werden, denen mit der zivilisatorischen Errungenschaft „Ignorieren“ begegnet werden kann. Es ist insofern kein Problem.
Problematisch ist jedoch ein anderer Aspekt, nämlich der Anspruch, die Diät nicht nur zum persönlichen Vorteil inclusive des sich moralisch Überlegen-Fühlens zu betreiben, sondern einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten – um Adorno zu paraphrasieren: ein richtiges Leben zu führen, das auch zum richtigen Leben für alle wird.
Adorno meinte damit zwar die Abschaffung von Ausbeutung, die Beendigung von Kriegen und ähnliches, weniger die welthistorische Errungenschaft, ein Schnitzel nicht zu essen. Aber das ist hier nicht weiter von Belang, auch wenn es schon seltsam anmutet, eine bessere Welt nicht durch das Beenden des Leidens von Menschen zu schaffen, sondern durch den Verzicht auf den Verzehr von Tieren. Geradezu pervers mutet hingegen ein solcher Anspruch beim Blick auf die Armen dieser Welt an. Wenn man nur einmal erlebt hat, wie in den Armutsregionen Asiens oder Afrikas ganze Dörfer zusammenströmen, wenn es jemandem gelungen ist, eine Schlange, ein Eichhörnchen oder einen kleinen Vogel zu erlegen, dann mutet das Verständnis der an sich selbst übersättigten Wohlstandszöglinge in den reichen Metropolen, durch den – jederzeit wieder zu beendenden – Verzicht auf den Verzehr von Fleisch eine bessere Welt zu schaffen, nur noch wie Hohn auf die Ärmsten der Armen an. Aber vielleicht ist das ja auch so gewollt. Denn nichts macht mehr Spaß als der Luxus, ein falsches Leben im falschen zu führen und gleichzeitig diejenigen zu verachten, die sich diesen Spaß nicht leisten können.
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