Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!
So soll der damalige Bundespräsident Lübke im Jahre 1962 eine Rede in Liberia begonnen haben. Mit ziemlicher Sicherheit ist dieses Zitat jedoch die Erfindung von Kabarettisten, um die – nicht zu leugnende – diplomatische Tölpelhaftigkeit Lübkes zu illustrieren. Wie auch immer: Als Reaktion der Öffentlichkeit auf diese Anrede hatte Lübke in erster Linie ein höhnisches Lachen zu erwarten.
Wie anders wäre das heute. Besieht man sich die aktuellen sprachpolitischen Tabus bzw. Vorschriften, hätte Lübke – so er nicht sofort hätte zurücktreten müssen – einen schwierigen Lernprozess vor sich gehabt, bis er die korrekte Formulierung gefunden hätte: “Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Negerinnen und Neger!” In schriftlicher Form hätte diese Anrede selbstverständlich ebenfalls keinen Bestand haben können; dort hätte dann von Neger_innen o.ä. die Rede sein müssen.
Oder doch nicht? Ganz offensichtlich passen hier Anredeformen und die jeweilige Kritik daran nicht zusammen. Das möchte ich mir im folgenden näher ansehen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Problem ganz sicher nicht in der Verwendung des – in den 1960er Jahren als unproblematisch aufgefassten – Begriffs „Neger“ liegt. Die (fiktive) Anrede wäre ja nicht weniger kontrovers gewesen, hätte sie gelautet: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwarzafrikanerinnen und Schwarzafrikaner!“
Die Krux der pseudo-lübke-schen Anrede ist, dass sie durch die Herstellung von Differenz – hier: die (weißen) Damen und Herren, da: die Neger – eine Hierarchie formuliert. Ganz ähnlich funktionieren alle Differenzsetzungen; sie definieren Unterschiede, die dadurch, dass sie überhaupt formuliert werden, einen Wert, eine Bedeutung erhalten. In den bekannten Weihnachts- und Neujahrsansprachen der Staatsrepräsentanten geht es daher auch immer um „Mitbürger“ oder ähnliches; noch nie begann eine solche Rede etwa mit „Liebe Reiche, liebe Arme“ oder – um es mit der gendergerechten Schreibweise des Binnen-Unterstrichs zu parallelisieren – „Liebe Reiche, liebe Arme und alle mit davon abweichenden Einkommensidentitäten“. Offensichtlich und ganz zu Recht gehört es in unserer Gesellschaft zum guten Ton, Differenzen des sozialen Status, einzelner körperlicher Merkmale („Meine Damen und Herren, liebe Rollstuhlfahrer“), kultureller Attitüden o.ä. nicht als Anredeform zu verwenden, wenn alle (möglichen) Adressaten angesprochen werden sollen und nicht die Differenz selbst thematisiert werden soll.
Bei dieser allgemein üblichen Vermeidung von Differenz-Formulierungen gibt es nur eine Ausnahme: die sog. gendergerechte Sprech- und Schreibweise. Da treten dann nicht mehr nur Ärzte, Studenten, Mechaniker und Postboten auf, sondern verdoppeln sich (zunächst nur) zu Ärztinnen und Ärzten, Studentinnen und Studenten usw.
Die Begründung für diese Einführung einer geschlechtsdifferenzierenden Benennung etwa von Berufen war und ist einfach. Wenn nur von „Ärzten“ die Rede ist, seien auch dann, wenn objektiv alle im Arztberuf Tätigen gemeint seien, subjektiv die Ärztinnen nicht mitgemeint. Subjektiv heißt: die Ärztinnen fühlen sich durch die Bezeichnung „Ärzte“ nicht vertreten, und auch die Patienten erwarten bei der Ankündigung „Arzt kommt gleich“ überwiegend eine männliche Person. Diese Begründung ist auf der empirischen Ebene kaum anzuzweifeln, d. h. insbesondere bei der Verwendung des Singulars („Student“, „Postbote“) findet sehr häufig eine Einengung des Wort-Verstehens auf eine männliche Person statt. Zwar ist etwa die deutsche Sprache aufgrund ihrer Verwendung des generischen oder grammatischen Geschlechts („der, die, das“) geradezu prädestiniert dazu, sprachlichen Ausdruck und persönliche Merkmale in der Geschlechtszuschreibung identisch zu setzen; ähnliche Probleme treten aber auch in anderen Sprachen wie etwa dem Englischen auf. Insgesamt – so könnte man die Begründung für eine gendergerechte Sprache zusammenfassen – schaffen Doppelformen („Ärztinnen und Ärzte“ oder andere Konstruktionen wie etwa das Binnen-I) mit dieser Differenzierung gerade nicht eine soziale Hierarchisierung (wie etwa „liebe Weiße, liebe Schwarze“), sondern reduzieren im Gegenteil den „male bias“, d. h. sorgen dafür, dass Frauen in gleicher Weise wie Männer gemeint sind, wenn beide auch sprachlich auftauchen.
Die gendergerechte Sprech- und Schreibweise wird unter mehreren Aspekten kritisiert; vor allem wird eine Verkomplizierung des sprachlichen Ausdrucks gesehen, aber auch ein Ersatz tatsächlicher sozialer Gleichstellung von Mann und Frau durch bloße linguistische Spielereien. Beide Kritikpunkte sind sicherlich nicht vollständig von der Hand zu weisen, dennoch heben sie das grundsätzliche Problem, wer denn nun mit welchem Wort angesprochen ist bzw. sich angesprochen fühlt, nicht auf.
Beiden Positionen ist jedoch gemeinsam, dass sie ein seltsam statisches Verständnis von Sprache, aber keinerlei Idee davon haben, dass Sprache und Sprachpraxis sich weitaus unvorhergesehener entwickeln als sie es sich vorstellen. Tatsächlich sollte die Bedeutung einer gendergerechten Sprechweise nicht nach dem Grund, weshalb sie eingeführt wurde bzw. wird, beurteilt werden, sondern danach, welchen Effekt sie hat. Eine solche Einschätzung soll im folgenden auf der Grundlage von drei Beobachtungen zu treffen versucht werden.
1. Gerade wenn es um Konflikte geht, wird die Gender-Differenzierung oft sehr selektiv eingesetzt: Dann stehen den aus ihrem Herkunftsland geflüchteten Irakerinnen und Irakern Rassisten gegenüber, werden Arbeiterinnen und Arbeiter von Kapitalisten ausgebeutet und so weiter. Gender-Differenzierung hebt hier die Hierarchisierung nicht auf, sondern schafft eine neue: nur diejenigen, die – z. B. moralisch-politisch – einen höheren Rang einnehmen, erhalten das Privileg, gendergerecht angeführt zu werden. Die gender-inkorrekte Bezeichnung dient hingegen als Anzeige der Abwertung, ja des Ausschlusses aus der Gemeinschaft all derjenigen, die es wert sind, gendergerecht angesprochen zu werden. Gendergerechte Sprache schafft somit eine neue Form der sprachlich fixierten Hierarchisierung.
2. Es liegt in der Logik der sprachlichen Differenzierung, dass sie weitere Differenzierungen nach sich zieht. Warum auch sollen Menschen, deren geschlechtliche Identität nicht dem herkömmlichen Mann- oder Frau-Gendertypus entspricht, mit der binären Unterteilung in – zum Beispiel – Arzt und Ärztin zufrieden sein? Wenn eine Frau sich nicht mit der Bezeichnung „Arzt“ angesprochen fühlt, dann haben konsequenterweise auch Personen mit einer anderen (etwa: queer) Geschlechtsidentität das Recht auf eine eigene Benennung. Die aus diesem Blickwinkel nicht vollständig befriedigende Lösung ist die Schreibung etwa mit Unterstrich („Ärzt_innen“), die das Spektrum möglicher Geschlechtsidentitäten anzeigen soll; eine entsprechende mündliche Sprachform steht noch aus. Die Kategoriebildung z. B. bei Facebook (wo mehr als 50 unterschiedliche Geschlechter zur Auswahl stehen), lässt erahnen, welche Probleme der Sprachschöpfung sich auftun, wenn die gendergerechte Sprachdifferenzierung in letzter Konsequenz durchgeführt wird. Aber: Warum behelligen Menschen ihre Umgebung überhaupt mit ihren Geschlechtsidentitäten? Da die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht beabsichtigt, mit einer gegebenen Person eine intime Beziehung einzugehen, kann auf die Mitteilung ihrer Geschlechtsidentität wirklich verzichtet werden. Aber gerade dazu ermutigt die gendergerechte Sprech- und Schreibweise.
3. Das wohl gravierendste Problem resultiert aus dem zentralen Anspruch gendergerechter Sprechweise, nämlich es für die Angesprochenen eindeutig zu machen, dass sie auch gemeint sind. „Wir vermieten auch an Studenten!“ – Sind dann auch Studentinnen gemeint? Oder anders herum: Schließt eine solche Formulierung Studentinnen nicht sogar aus? Tatsächlich zeigt das generische Maskulinum (hier: Student) nicht an, ob Frauen mit gemeint sind. Erst die soziale Praxis (etwa: die Nachfrage einer Studentin nach der Wohnung) zeigt, ob auch sie gemeint ist oder doch nur ihr männlicher Kommilitone. Soweit der bereits skizzierte empirische Befund, dass das grammatische Geschlecht die Auffassung eines korrespondierenden „natürlichen“ Geschlechts präjudiziert.
Doch dies ist nicht nur bei den übersehenen und/oder nicht gemeinten Ärztinnen, Ministerinnen, Studentinnen, aber auch Mitbürgerinnen etc. der Fall, sondern ebenso bei den bereits in Punkt 1 angesprochenen Kapitalisten, Rassisten oder auch Mördern, Dieben und sonstigen Bösewichtern. Wenn im positiven Fall (und nur dieser munitioniert die Argumentationen zugunsten gendergerechter Sprache) Männer immer gemeint sind, Frauen aber nur eventuell, und es sich erst in der Praxis erweist, ob es auch um sie geht, dann gilt dies im negativen Fall in gleicher Weise. Männer sind also notwendigerweise gemeint, wenn es etwa heißt, dass Ärzte mehr an ihre Abrechnungen denken als an ihre Patienten; eine Ärztin kann es sich aussuchen, ob sie sich von dem angeführten Vorwurf angesprochen fühlt oder nicht. Insofern beraubt jede sprachliche, nicht nur die gendergerechte Differenzierung von Personengruppen die Angehörigen der neu kategorisierten Teilgruppen der Möglichkeit, sich nicht angesprochen zu fühlen, nicht gemeint zu sein.
Und das heißt: Immer mehr Menschen werden in scharfe sprachliche Kategorien eingeordnet, in immer stärkerem Ausmaß wird der Zugriff auf Menschen auch sprachlich forciert, und immer weniger bleibt die Möglichkeit darauf zu beharren, dass man sich nicht in vorgegebene Kategorien einsortieren lassen will. Aber dann ist man ja wieder auf die uneindeutige soziale Praxis zurückgeworfen, in der kategoriale Zuordnungen manchmal so und manchmal ganz anders ausfallen. Man verliert dadurch die eindeutige Gruppenzugehörigkeit, ist irgendwie nur einer von allen oder – noch schlimmer – ein Individuum. Bloß: Vielleicht sollte es das einem manchmal schon wert sein.
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