Zur Zeit liest und hört man sehr viel von Leuten, die beleidigt sind. Oder die man zumindest beleidigen könnte, indem man ihre Gefühle verletzt. Dabei geht es insbesondere um religiöse, nationale und ethnisch-völkische Gefühle (zu letzterem siehe diesen Post). Nun ist Beleidigt-Sein oder -Werden zunächst eine recht individuelle Aktivität, die von den Beteiligten ein besonderes Sender-Empfänger-Verhältnis verlangt, um auch gesellschaftlich interessant, also zum Beispiel gerichtsrelevant zu werden: Wenn der Sender jemanden beleidigt, der Empfänger das aber nicht so wertet, also nicht beleidigt ist, dann ist diese Beleidigung gesellschaftlich inexistent. Im umgekehrten Fall, wenn der Sender jemanden nicht beleidigen will, es aus seiner Sicht also auch nicht tut, kann der Empfänger zwar beleidigt sein, wird aber mit dieser Auffassung keine gesellschaftliche Resonanz, etwa ein Gerichtsurteil, erreichen. Nur wenn die Kommunikation vollständig ist, d. h. ein Beleidiger auf jemanden trifft, der dann auch beleidigt ist, wird üblicherweise die Beleidigung zu einem überindividuellen Akt; es folgt etwa eine Gegen-Beleidigung, ein Vermittlungs- oder Verstärkungshandeln von Dritten oder eine Sanktion durch Autoritätspersonen oder ein Gericht.

Der aktuelle Diskurs über Beleidigt-Werden und verletzte Gefühle dreht sich jedoch gar nicht um den geschilderten Fall von Interaktion zwischen Einzelpersonen (etwa: „Du Trottel!“), sondern um kollektives Beleidigt-Sein, um kollektive Gefühle, bei denen es auch ganz und gar nicht darum geht, dass Sender und Empfänger sich aufeinander beziehen, sondern um den Anspruch auf Deutungshoheit seitens der Beleidigten, die definieren, wodurch sie beleidigt werden, und von den subjektiv vielleicht gar nicht beleidigenden Sendern die Einsicht in ihr beleidigendes Verhalten und eine Verhaltensänderung einfordern.

Die Begründung dafür, warum sie beleidigt sind, auch wenn das die Sender eventuell gar nicht beabsichtigt haben, lautet, dass ihre Gefühle verletzt wurden. Sieht man sich diese Gefühle, die da verletzt werden, genauer an, zeigt sich, dass offensichtlich nur bestimmte Gefühle verletzt werden können, um eben dadurch zum Beleidigt-Sein der dann Beleidigten zu führen.

Betrachten wir dazu ein paar Gefühlsarten: Die am stärksten mit der bloßen Existenz des Menschen verbundenen Gefühle sind wohl Gefühle wie Hunger, Schmerz, Kälte und ähnliches. Dass derartige Gefühle verletzt werden oder Menschen sich dadurch beleidigt fühlen, ist bisher unbekannt. Offensichtlich taugen diese Gefühle nicht zum Beleidigt-Sein; ein Hungernder ist hungrig, nicht beleidigt.

Ein zweiter Typ von Gefühlen ist nicht derart unmittelbar an die Biologie des Menschen gebunden, sondern wird anerzogen oder anderweitig erlernt: dazu gehören Gefühle wie Dankbarkeit, die romantische Liebe oder Ekel vor bestimmten Dingen. Hier werden gesellschaftlichen Normen und Distinktionsvorgaben internalisiert und zu Elementen des eigenen Gefühlslebens. Diese Gefühle können zwar verletzt werden (etwa durch die Zurückweisung seitens einer geliebten Person oder in Form von Folterpraktiken, die Ekelgefühle instrumentalisieren); sie sind aber nicht Grundlage kollektiven Beleidigt-Seins.

Eine recht heterogene Kategorie von Gefühlen sind Ängste oder Phobien. Während etwa Höhenangst oder die Angst vor Spinnen recht eng mit fundamentalen körperlichen Empfindungen verbunden sind, weisen andere Phobien einen recht hohen Grad an (scheinbarem) Wissen auf: Angstgesteuerte Abstinenzen bei bestimmten Lebensmitteln (Milchprodukte, Getreideerzeugnisse usw.) gründen ebenso wie die Furcht vor Erdstrahlen oder unterirdischen Wasserläufen auf einem teilweise recht anspruchsvollen alltagstheoretischen Konstrukt der Welt. Die entsprechenden Gefühle übersetzen dieses Wissen in handlungssteuernde Befindlichkeiten. Selbstverständlich kann man etwa die Phobien einzelner Menschen spöttisch kommentieren, diese mögen dadurch auch beleidigt sein; dies bleibt jedoch üblicherweise ein rein individuelles Problem und soll daher hier nicht weiter diskutiert werden.

Einige Einträge in den fast endlosen Listen diagnostizierter Phobien weisen jedoch bereits auf einen anderen, letzten Typ von Beleidigt-Sein/-Werden hin. Ein Beispiel ist die sog. Wiccaphobie, die Angst vor Hexen. Auch hier haben wir ein bestimmtes Wissen, und zwar über die Fähigkeit bestimmter Personen zu zaubern und anderen Menschen dadurch Böses zu tun. Dieses Wissen ist ebenfalls mit Gefühlen, nämlich Ängsten verbunden, und man kann wie bei den anderen Phobien diese Gefühle verletzen, indem man sich zum Beispiel über sie lustig macht. Dies ist jedoch nur in solchen Gesellschaften möglich, in denen ein weitestgehender Konsens über die Nicht-Existenz von Hexen existiert. Wird die Phobie zum Massenphänomen wie etwa im europäischen Spätmittelalter oder heute in Teilen Afrikas, dann handelt es sich nicht mehr um individuelle Pathologien, sondern um einen Aspekt bzw. ein Element von Religion, die – wie bereits einleitend erwähnt wurde – offensichtlich beleidigt werden kann. Dann wandelt sich das, was auf individueller Ebene kaum größere Bedeutung hat, zu einem fundamentalen Problem: eine Religion wird angegriffen, wird beleidigt, denn ihre Angehörigen fühlen sich in ihren Gefühlen verletzt.

Exkurs:
Wenn eine Religion, eine Nation oder eine ethnisch-völkische Gruppe beleidigt ist, d. h. sich beleidigt fühlt, dann ruft das nach Sanktionen. Hier eröffnen sich mehrere Möglichkeiten: Nationen werden üblicherweise dadurch beleidigt, dass ihre Symbole beleidigt werden. Staaten, auch solche der sog. zivilisierten Welt, stellen dann z. B. das Verächtlich-Machen der Flagge oder des Wappentiers unter Strafe. So ist die Nation gleich weniger beleidigt.

Auch die Religion wird staatlicherseits verteidigt. In Deutschland wird in §166 die „Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen“ bestraft, was daran gemessen wird, dass der „öffentliche Frieden“ gestört wird, d. h. davon abhängt, dass möglichst viele Mensch ihre Religion als beleidigt ansehen. Beleidigung ist hier wieder ausschließlich eine Definition seitens des Empfängers, nur diese entscheiden, ob und wann sie beleidigt wurden.

Noch problematischer wird es aktuell dann, wenn einzelne Personen andere für deren Beleidigung Gottes bestrafen, gerne auch töten. Denn eigentlich wäre es ja die Angelegenheit Gottes, sich beleidigt zu fühlen und die Bösewichter entsprechend zu züchtigen. Aber ein solches Vertrauen in die (All-)Macht Gottes haben diese Menschen anscheinend nicht. Obwohl Gott nicht nur die Welt und den Menschen geschaffen sowie gezeigt hat, dass er z. B. in der Lage und auch willens ist, die sündige Menschheit mit Ausnahme eines inzestuösen Vaters und seiner ebensolchen Töchter durch eine große Flut auszurotten, traut man ihm heute nicht mehr zu, mit denjenigen, die ihn verhöhnen und beleidigen, selbst fertig zu werden. Die sich beleidigt fühlenden Menschen sind also stellvertretend beleidigt, sie setzen sich an die Stelle eines Gottes, dem es offensichtlich einerlei ist, ob er beleidigt wird oder nicht. Man fragt sich, ob er mit einem solchen Typ von Gläubigen sehr zufrieden ist; es sieht aber so aus, als wäre ihm auch das nicht besonders wichtig.

Was sind aber religiöse oder nationale Gefühle? Was ist ihr Stellenwert innerhalb dessen, was man Religion oder Nationalismus nennt? Sieht man sich z. B. eine der großen monotheistischen Religionen an, zeigt sich, dass sie eigentlich ein Konglomerat aus (vorgeblichem) Wissen und kultischen Praktiken ist. Das Wissen reicht von der Existenz Gottes selbst über zahlreiche Geschichten über seine Taten bis hin zu Aussagen darüber, welche Ansprüche Gott an die Menschen hat und was diese besser bleiben lassen sollten. Nun ist Wissen üblicherweise nur sehr eingeschränkt mit Gefühlen verbunden; simples Faktenwissen („Paris ist die Hauptstadt Frankreichs“) ist ebensowenig gefühlsmäßig unterfüttert wie Einsichten in komplexere Vorgänge (z. B. das Funktionieren der Deutschen Bahn oder das Klima). Wo ist dann der Platz für Gefühle in einer Religion?

Ganz offensichtlich spielen Gefühle genau dort eine zentrale Rolle, wo religiöses Wissen entweder in Widerspruch zu eigenen Erfahrungen tritt oder sich als in sich widersprüchlich und inkonsistent (etwa beim Vergleich einzelner Stellen in den jeweiligen heiligen Büchern) erweist. Religiöse Gefühle schützen also das religiöse Wissen vor dem Alltagswissen und der prüfenden Reflexion, füllen Lücken und überbrücken Widersprüche. Oder kurz: Religiöse Gefühle retten die Religion vor dem Verstand. Gleiches gilt selbstverständlich auch für nationale Gefühle, was hier nicht weiter erläutert werden muss.

Eine Beleidigung von Religion wird akut, wenn Menschen ebendiese Kluft zwischen ihrem außerreligiösen und ihrem religiösen Wissen alltagspraktisch erfahren und zusätzlich auch noch darauf hingewiesen werden. Dann sind die religiösen Gefühle verletzt, die Menschen sind beleidigt. Vielleicht trügt der Eindruck, aber es scheint eine zunehmende Anzahl von Personen zu geben, die auf den Verlust ihrer Illusionen mit besonderer Aggressivität gerade gegen diejenigen reagieren, die diese Illusionen auch noch als solche benennen. Denn es würden ja Gefühle verletzt, die Träger dieser Gefühle damit zutiefst beleidigt.

Demgegenüber sind rationale Aussagen irgendwie nebensächlich: Wenn ein Gefühl verletzt ist, dann ist das offenbar wesentlich schlimmer als wenn der Verstand durch Religion beleidigt wird. Eines immerhin mag den Beobachter noch positiv stimmen: Es gibt eine Gruppe von Menschen, die auf eine spezifische Form von Beleidigung bisher nicht aggressiv reagieren; und zwar genau diejenigen, deren Verstand durch die Existenz religiöser und nationaler Gefühle beleidigt wird.